Langzeitstudent wider willen

Das Leben an der Universität habe ich immer genossen. Seit kurzem fühle ich mich aber in den Seminaren alt, dabei studiere ich noch nicht exorbitant lange. Ein Erklärungsversuch.

Erschienen bei Was bildet ihr uns ein

In den ersten Semestern des Studiums war ich relativ aktiv in der studentischen Selbstverwaltung: Ich habe Partys organisiert, über Studienbedingungen diskutiert und „Ersti-Touren“ begleitet. Das ist so eine Art Schnitzeljagd, bei denen die neuen Studierenden den Uni-Campus kennenlernen sollen. Seitdem ist ein bisschen Zeit vergangen. Alt habe ich mich aber an der Uni bisher nicht wirklich gefühlt. Bisher.

Vor kurzem habe ich auf einer Party einen Bekannten wieder getroffen, dessen Ersti-Tour ich vor Jahren geleitet habe. Seine lässige Einstiegsfrage: „Na, du Urgestein, bist du immer noch am Institut?“ Auf meine verdutze Reaktion ergänzte er: „Ihr wart ja damals schon die Großen, als wir angefangen haben.“

Ich glaube, er meinte es gar nicht böse. Trotzdem kam ich ins Grübeln. Im Verlauf des Gesprächs kam dann noch auf, dass er mittlerweile fertig studiert hat. Ich bin noch immer an der Uni und fühle mich alt und so, als ob ich schnellstmöglich meinen Abschluss machen müsste. Wieso eigentlich?

Gefühlt zu alt – wieso eigentlich?

Meine Spurensuche beginnt bei der Regelstudienzeit. Bachelorstudiengänge sollen in Deutschland an Universitäten meist in sechs, an Fachhochschulen in sieben Semestern studiert werden. Masterstudiengänge haben eine Regelstudiendauer von zwei bis vier Semestern.

Nun gut, das habe ich nicht geschafft, auf meinem Studierendenausweis steht eine höhere Zahl. Jedoch bin ich in der Soziologie damit nicht allein: Nur 50,4 Prozent der Sozialwissenschaftler_innen haben ihren Abschluss in Regelstudienzeit gemacht. Die andere Hälfte braucht, wie ich, länger. Dies scheint also kein Grund zu sein. Auch bin ich der Uni noch nicht überdrüssig und kann in Seminaren noch etwas lernen.

Zu alt für die Uni, weil ich alles gesehen habe? Auch hier Fehlanzeige. Vielleicht hilft der Blick nach draußen. Laut einer Studie der AOK geht es der Hälfte der Studierenden wie mir: Sie fühlt sich gestresst. Dies kann sogar körperliche Folgen haben. Spannend dabei ist jedoch, dass die Studierende der Soziologie laut dem letzten Studierendensurvey durchschnittlich lediglich 22,6 Stunden pro Woche für das Studium arbeiten – im Gegensatz zu 44,6 Stunden, die Veterinärmediziner*innen am Schreibtisch verbringen. Sagen mit die Zahlen also eher, dass ich faul bin und nicht gestresst? Nun ja. Das Gefühl ist aber da.

Grundlage hierfür können zum einen die gestiegene Anzahl an Leistungsanforderungen sein, ebenso spielt die Frage der Finanzierung des Studiums eine Rolle. Sowohl das BAföG als auch Stipendien sind an Regelstudienzeit gekoppelt. Wer länger gefördert werden will, muss Anträge schreiben und triftige Gründe wie Schwangerschaft oder Krankheit vorbringen. Ebenso ist die Rückzahlung von BAföG und Krediten an die Studiendauer gekoppelt: Je schneller man fertig ist, desto weniger muss zurückgezahlt werden. Völlig außen vor bleibt hier jedoch die große Mehrheit der Studierenden, die gar keine finanzielle Förderung erhält und sich mit Nebenjobs oder von Ersparnissen finanzieren muss.

Beim Thema Studienfinanzierung zeigt sich, wie unsere Gesellschaft ihre Studierenden gern hätte: In Regelstudienzeit studierend, mit möglichst mehrjähriger Auslandserfahrung und in Nebenjobs und Engagement bereits erste Berufserfahrung gesammelt. Und fertig für den ersten Arbeitsmarkt mit Mitte 20, natürlich. Grundlage für solche Erwartungen waren die Zielsetzungen der Bologna-Reform. Ein Ziel der Reform war es, die Studiendauer zu verkürzen. Dieses Ziel wurde auf der einen Seite auch erreicht: Die durchschnittliche Studiendauer von Erstabsolvent_innen in Deutschland sank von 11,7 Semestern im Jahr 2003 konstant auf nur noch 7,7 Semester 2015. Auf der anderen Seite sind es insgesamt nur knapp 40 Prozent aller Absolvent_innen, die ihren Abschluss innerhalb der Regelstudienzeit erwirbt. Was ist das für eine Regel, wenn sich niemand an sie hält?

Das Thema Regelstudienzeit verdeutlicht, wie weit Anspruch und Wirklichkeit der Bologna-Reform auseinander liegen. Und wie weit sich der Anspruch bereits in unseren Köpfen als Normalität verfestigt hat, zeigt das eingangs erwähnte Partygespräch. Was heutzutage als universitäre Normalität erscheint, ist aber schlicht das Ergebnis eines Prozesses, der sich im Zuge der Bologna-Reform unter dem Schlagwort ‚employability‘ an ökonomischer Verwertbarkeit des Studiums orientiert. Gepaart mit Credit Points, Anwesenheitspflichten, berufsbezogenen Zusatzqualifikationen wird Druck auf Studierende ausgeübt, sich ‚fit für den Arbeitsmarkt‘ zu machen. Gerade für Studierende, die sich diesen Ansprüchen verweigern, wird es immer schwieriger – und das betrifft nicht nur die hard facts wie Finanzierung oder spätere Jobaussichten, sondern eben auch Rechtfertigungsdruck in der Familie, bei Versicherungen oder Bewerbungsgesprächen.

Einmischen! Um den Preis, dass es noch länger dauert

Diese Leistungsideologie ist also sehr erfolgreich – sowohl in der Gesellschaft, als auch in unseren Köpfen. Doch es lohnt sich, dagegen vorzugehen. Nicht, weil es mein Ziel ist, als Langzeitstudium alt zu werden, sondern weil es für Student_innen möglich sein muss, nicht in Regelstudienzeit zu studieren – weil sie es nicht können oder es nicht wollen. Ich studiere noch immer unheimlich gern, weil ich an der Universität vieles lernen kann und möchte, und gebe einen Teil dieses Wissens durch meine joruamlistische Arbeit, aber auch durch mein Engagement weiter.

Was kann getan werden? Die Studienpläne von Bachelor und Master sind noch immer zu voll. Meist wurden die Vorgaben der Bologna-Reform allzu bürokratisch umgesetzt ohne die konkreten Realitäten des Studienalltags zu berücksichtigen. Die Hochschulen sollten vielmehr Rahmenbedingungen setzen und vielleicht auch die Regelstudienzeit verlängern um die Stofffülle so zu organisieren, damit das Studium auch studierbar wird.

Auch die studentische Selbstorganisation kann mehr tun. Um das derzeitige System zu ändern, kann man sich nicht alleine auf den Reformwillen der Hochschulen verlassen. Auf studentische Initiative hin ist in den letzten Jahren auch bereits viel gelungen: das Zurückdrängen von Studiengebühren und teilweise der Anwesenheitspflichten (z.B. in NRW oder Berlin). Beides hat dazu geführt, es Studierenden zu ermöglichen, mit den widersprüchlichen Erwartungen an sie besser umzugehen. Solche Verbesserungen können aber nicht im Einzelkampf gelingen. Auf die Gefahr hin, dass das Studium dann noch länger dauert: Das Engagement in den Gremien der studentischen Selbstverwaltung und in Hochschulgruppen lohnt sich.