Die neue, kühle Eigenlogik

Philosophie Je intelligenter und selbstständiger Geräte und Gegenstände handeln, desto stärker wird die Lehre des Neuen Materialismus

Erschienen in Der Freitag 04/2017

Sind Sie auch bei Netflix? Bald schon sollen Sie dort nicht mehr selbst auswählen müssen, was Sie sehen wollen. „Wir sollten den Punkt erreichen, an dem man einfach Netflix aufdreht und ein Video, das Nutzern gefällt, automatisch startet“, sagte der Netflix-Vizepräsident Carlos Gomez-Uribe unlängst dem deutschsprachigen Wirschaftsportal Business Insider. Ein Algorithmus werde dem Netflix-Publikum künftig bei der Auswahl helfen. Er sammelt Daten zum Nutzungsverhalten, wann die Zuschauer pausieren oder das Programm abbrechen und welche Serien sie später weiterschauen. Weiß der Algorithmus dadurch wirklich mehr als wir selbst?

Ein anderes Beispiel: Im Mai 2016 kam in Florida erstmals ein Mensch in einem autonom fahrenden Auto ums Leben. Der Tesla konnte offensichtlich einen weißen Sattelschlepper nicht vom hellen Himmel unterscheiden, reagierte daher nicht und raste ungebremst in einen LKW. Auch wenn Tesla in einem Blogbeitrag nach dem Unfall betonte, dass die Hände des Fahrers stets am Lenkrad bleiben müssten, auch bei einem selbststeuernden Fahrzeug, gibt es bei Youtube Dutzende Videos von Menschen, die Zeitung lesen oder gar schlafen, während sie sich eigentlich aufs Fahren ihrer Wagen konzentrieren sollten.

Algorithmen, selbstfahrende Autos, Big Data, Smart Factories und Industrie 4.0: Das sind nur einige der vielen HightechBuzzwords der Stunde. Es scheint, als ob Maschinen, Datenbanken und Programme jetzt tatsächlich anfangen, selbstständig zu agieren. Damit verändert sich auch das Verhältnis von Dingen und Menschen. Unter dem Stichwort New Materialism haben diese Fragen bereits Eingang in philosophischen Debatten gefunden.

Grenzen der Theorie

Die Beschäftigung mit Materialität scheint in akademischen Kreisen (wieder) en vogue. So fragte 2011 eine Tagung in Mainz unter dem Titel „Materialitäten“ nach dem material turn in den Sozial- und Kulturwissenschaften. International sind seitdem mehrere Sammelbände unter dem Label „New Materialism“ erschienen, einem Begriff, der im Wesentlichen mit den Denkerinnen und Autoren Karen Barad, Rosi Braidotti, Donna Haraway und Bruno Latour verbunden wird.

Dabei sind die Positionen, die Materie jetzt (neu) denken, höchst vielfältig. Zentral ist jedoch immer die These, Materie nicht als gegebene, abgeschlossene Struktur zu verstehen. Wenn Algorithmen sich verändern und die Smart Factory die virtuelle und die reale Welt verbindet, werden die Dinge zu einem sich stets wandelnden Prozess. Ihnen wird dabei eine agency zugesprochen, wie die Theoretikerinnen es nennen. Damit ist eine Handlungs- und Wirkungsmacht gemeint, die in Eigenlogik, ohne menschliches Zutun, den Dingen innewohne. Dieses Eigenleben äußere sich in konkreten Handlungen der Dinge: also etwa darin, dass das Auto, das den Sattelschlepper nicht erkennt, selbsttätig weiterfährt. Dabei steht die Unbestimmbarkeit dieser Handlungen im Vordergrund der Überlegungen. Die Dinge handeln autonom, und menschliches Handeln unterscheidet sich von diesen Handlungen nicht grundlegend – es ist vielmehr fremdbestimmt durch Materie. Wird der fehlerhafte Mensch letztlich also zum Anhängsel der perfekten Maschinen?

Wenn man sich Problemen wie diesem stellt, werden die Grenzen der klassischen Gesellschaftstheorie überschritten. Es stellt sich daher die Frage, welche Methoden nötig sind, um sowohl intelligente Programme zu schaffen als auch vor allem: diese schließlich zu verstehen. Nicht zufällig arbeiten viele Autoren des New Materialism an der Schnittstelle zwischen Geistes- und Naturwissenschaften. Es geht ihnen um die kritische Besetzung von Technik und Biologie. Wenn der Blickwinkel so eingestellt wird, dass unbelebte Materie ebenso handlungsfähig ist wie Menschen, wird auch der Unterschied zwischen tot und lebendig hinfällig. Die toten Dinge handeln ohne unser Zutun und (auch das noch!) geben den Rahmen vor, in dem wir uns als Menschen bewegen. Andrea Seier spricht in diesem Zusammenhang von einer „neuen Lust an der Unverfügbarkeit der Dinge“, die damit begründet wird, „dass die Dinge sich den Diskursen nicht fügen und eigen-artig bleiben, dass sie selbst dynamisch, vital oder performativ sind“. Dies schreit förmlich nach einer wissenschaftlichen Revolution, nach einem Paradigmenwechsel, könnte man meinen. Oder handelt es sich letztlich doch nur um eine leichte Verschiebung der Perspektiven, ohne fundamentalen Bruch – um einen Sturm im akademischen Wasserglas?

Dafür lohnt sich noch einmal ein genauerer Blick auf die Konzeption der Dinge und deren Eigenleben. Der französische Soziologe Bruno Latour und seine Akteur-Netzwerk-Theorie aus den 1980er Jahren liefern dafür die Grundlage. Latour hinterfragt darin die Trennung zwischen Natur und Gesellschaft und beschreibt eine gemeinsame Welt aus ständiger Kommunikation des globalen ökologischen Haushalts, der Menschen, aber auch der Dinge und der Tiere als gemeinsam Handelnde. Der Philosoph und Soziologe erinnert an den etymologischen Ursprung des Worts „Ding“, dessen althochdeutsche Form „thing“ keineswegs ein unteilbares Element benannte, sondern etwas Vielfältiges.

Ein anschauliches Beispiel für das Eigenleben prozesshafter Dinge findet die US-amerikanische Politikwissenschaftlerin Jane Bennett im Abfall – konkret beim pazifischen Müllstrudel, den Tonnen von Plastik, die im Pazifik mittlerweile eine eigene Formation gebildet haben, doppelt so groß wie die Fläche Deutschlands. Für Bennett ist dieser Müllstrudel nicht allein auf die Verschmutzung durch den globalen Kapitalismus zurückzuführen, sondern er sei aus einer Verbindung von diesem mit der Eigenständigkeit des Weggeworfenen entstanden. Somit wird das Handeln der Dinge auch immer als Zusammenspiel von verschiedenen Faktoren (hier: Müllproduktion, fehlendes Umweltbewusstsein der Menschen, Verbindung der einzelnen Plastikteile, Meeresströme) gedacht.

Launische Algorithmen

Wenn das Klima, wenn Autos oder auch Atomkraftwerke als Akteure gedacht werden, hat dies enorme Effekte: Es beeinflusst politische Einscheidungen und birgt Grundlagen für soziale Ungleichheit. Der italienische Netzphilosoph Luciano Floridi ist sich dessen bewusst: „Algorithmen haben häufig signifikante Tendenzen und Vorurteile. Häufig ist ihr Ergebnis ein anderes, je nach Geschlecht, Hautfarbe oder der Herkunft eines Menschen.“ Neben solchen gesellschaftlichen und politischen Fragen tauchen in diesem Zusammenhang auch rechtliche Probleme auf: Wenn Software in der Industrie 4.0 eigenständig neue Prozesse und Verbesserungen erfindet, hat dies konkrete Folgen für das Urheber- und Patentrecht: Wird bei solchen maschinellen Entwicklungen eine Schöpfungshöhe erreicht, also das im deutschen Urheberrecht so bezeichnete Maß an persönlicher geistiger Schöpfung? Diesen Fragen verwehrt sich der New Materialism jedoch zumeist.

Hier wird auch der Unterschied zum „alten“ Materialismus im Anschluss an Karl Marx deutlich: Dieser hat im Konzept der Entfremdung und Verdinglichung auch die Beziehung zwischen Mensch und Ding beschrieben. Neben der „eigentlichen“, vorgängigen Natur gibt es bei Marx die zweite, vom Menschen gemachte Natur, also Dinge mit Gebrauchs- und Tauschwert. Aus der Verfügungsgewalt über diese Dinge ergeben sich Ungleichheiten, die aber vom Menschen aktiv gestaltet und auch wieder verändert werden können.

Der New Materialism liefert auf diese ursprünglichen Fragen des Materialismus – was ist Gesellschaft und wie kann sie verändert werden – keine Antworten. Kritiker der neuen Denkschule haben dies mehrfach und zu Recht bemängelt. Doch vielleicht braucht es angesichts neuer Technologien, angesichts der wachsenden Bedeutung von Chatbots und des „Internets der Dinge“, angesichts von Müllstrudeln und selbstfahrenden Autos nun einfach eine neue Theorie?

Ohne Zweifel verändern die neuen technologischen Entwicklungen die Beziehung zwischen Mensch und Ding. Aber dem New Materialism fehlt zu viel, um sich als neue Großtheorie durchzusetzen. Denn was dabei völlig vergessen wird, sind die Analyse der Ordnung von Strukturen und die Frage nach den politisch-ökonomischen Bedingungen. Das Sein der Dinge wird kritiklos und dogmatisch vorausgesetzt, gesellschaftliche Veränderungen werden damit schwer zu denken. Der Glaube daran, dass die Dinge einfach „sind“, vergisst zudem, dass auch das selbstfahrende Auto noch von Menschen produziert worden ist und dass der Müll im Pazifik einen menschlichen Ursprung hat. Menschen sterben im Straßenverkehr nicht, weil das Eigenleben der Dinge es so bestimmt hätte – sondern weil Menschen Fehler gemacht haben. Ob am Steuer eingeschlafen oder die Software falsch programmiert: Grundlage ist beide Male menschliches Versagen.