Lynch the Landlord: Warum alle vom Enteignen reden

Marx dürfte das gefallen haben: In Berlin fordern Viele, große Immobilienfirmen zu enteignen. Er wollte jedoch mehr: die »Expropriation der Expropriateure«. Sowas wie »Lynch the Landlords« auf Latein.
Erschienen auf Supernova.

Lynch the Landlord – dem Titel des Lieds der Punk-Band Dead Kennedys, die Hausbesitzer direkt zu lynchen, müsse man ja nicht gleich folgen, heißt es vor einem Kiosk in Berlin-Kreuzberg ganz in der Nähe des jüngst besetzten Hauses in der Großbeerenstraße 17a. Aber so wie es aktuell auf dem Wohnungsmarkt zugehe, könne es auch nicht sein, meint Malte. Er wohnt in Kreuzberg und ist dort seit kurzem stadtpolitisch aktiv. Mit ihm zusammen laufe ich auf das besetzte Haus zu. Im Keller des Hauses hat der Eigentümer mittlerweile eine Notunterkunft für wohnungslose Frauen einrichten lassen, aus den Fenstern im ersten Stock hängen immer noch Plakate. »Besetzen« oder »Wir bleiben Alle!« ist auf ihnen zu lesen.

Dem 22-jährigen Malte gefällt das. Er studiert Physik, politisch aktiv war er bislang nicht. Doch dann wurde das Thema Mieten immer präsenter. Erst die Kampagne #besetzen, große Demonstrationen und nun das Volksbegehren »Deutsche Wohnen & Co enteignen«. Besetzen und Enteignen, zwei große Worte mit radikalen Folgen. Denn sie greifen einen Grundpfeiler der gegenwärtigen gesellschaftlichen Ordnung, der kapitalistischen Marktwirtschaft, direkt an: das Privateigentum. Laut einer Umfrage befürwortet jedoch über die Hälfe der Berliner*innen diese Forderung. Denn Mietenwahnsinn und Wohnungsnot sind für viele das größte Problem in der Hauptstadt. So sieht das auch Malte und fing an, sich an Demonstrationen zu beteiligen.

Enteignung ist im Grundgesetz vorgesehen

Deshalb fordern die Aktivist*innen nun eine grundsätzliche Lösung: die Vergesellschaftung von Grund und Boden. Die Initiative »Deutsche Wohnen & Co enteignen« stützt sich bei ihrer Forderung auf das Grundgesetz. Im Paragraf 15 heißt es dort: »Grund und Boden, Naturschätze und Produktionsmittel können zum Zwecke der Vergesellschaftung durch ein Gesetz, das Art und Ausmaß der Entschädigung regelt, in Gemeineigentum oder in andere Formen der Gemeinwirtschaft überführt werden.« Vielleicht mag es an diesem Bezug zur Verfassung liegen, dass sich dem Wunsch nach Enteignung aktuell nicht nur Linke anschließen, sondern er auch weit in die bürgerliche Öffentlichkeit hinein wirkt.

Noch nie wurde dieser Paragraf in der Geschichte der Bundesrepublik genutzt. Nun soll es so weit sein, sollte das Volksbegehren erfolgreich sein. Auf der Liste der Initiator*innen stehen alle Unternehmen, die mehr als 3000 Wohnungen in ihrem Bestand haben. Auf Platz eins Berlins größter Privatvermieter mit über 100.000 Wohnungen: die Deutsche Wohnen. Die Aktiengesellschaft war in den vergangenen Jahren vielfach kritisiert worden. Es folgen die Vonovia mit knapp 42.000 Wohnungen, die ADO Properties (22.000 Wohnungen) und Covivio (16.000 Wohnungen). Christoph Trautvetter hat für die Rosa-Luxemburg-Stiftung über diese Unternehmen geforscht und herausgefunden, dass die »meisten Unternehmen in den vergangenen zwei Jahren ihre Mieten sehr stark erhöht« haben, »im Durchschnitt um fünf, sogar sechs Prozent«, schreibt er in seiner Studie.

Enteignung findet laut Marx also tagtäglich statt: in der Firma, im Krankenhaus, in der Werkstatt.

Gerade in Deutschland war dies nicht immer so. Erste umfassende Regelungen des Rechts der Enteignung finden sich zu Beginn des 19. Jahrhunderts. Hier ging es vor allem um die Enteignung von Bäuerinnen und Bauern, deren Grund dem Bau von Eisenbahnlinien oder Schiffskanälen im Wege stand. Später kam der Straßenbau dazu. Es wurden also Privatpersonen im Interesse von Unternehmen enteignet und nicht umgekehrt. In der Zeit des Nationalsozialismus trafen staatliche Enteignungsmaßnahmen vor allem Jüdinnen und Juden, sowie kommunistische und sozialdemokratische Organisationen und Emigrant*innen. Nach dem Zweiten Weltkrieg gehörten Enteignung und Verstaatlichung in der DDR zur Staatsräson, die Bundesrepublik wollte sich solcher kommunistischer Machenschaften nicht verdächtig wissen.

Die Renaissance der Debatte um Enteignung ist daher verwunderlich, aber auch begrüßenswert. Um jedoch wirklich grundlegende Veränderungen voranzutreiben, reicht es nicht, das Grundgesetz nochmal genau gelesen zu haben. Hierfür muss man viel grundlegender werden. Karl Marx verwendet in seinem Hauptwerk »Das Kapital« das lateinische Fremdwort für Enteignung: Expropriation. Er versteht darunter die Ausbeutung der menschlichen Arbeitskraft in Klassengesellschaften. Enteignung findet laut Marx also tagtäglich statt: in der Firma, im Krankenhaus, in der Werkstatt. Und es sind diejenigen, die arbeiten, die enteignet werden. Die Lösung dessen sieht Marx in der »Expropriation der Expropriateure«, also die Enteignung der Besitzer*innen von Produktionsmitteln durch ökonomische oder politische Gewalt – »Lynch the Landlords« auf Latein quasi.

Daran schließt nun offenbar das kommunistische »…ums Ganze«-Bündnis an. In einem aktuellen Aufruf heißt es: Wir müssen »grundlegend gegen das Privateigentum und seine Ideologie vorgehen, die sich in unseren Mietverträgen verkörpert. Der Mietvertrag zementiert das Ungleichheitsverhältnis zwischen denen, die Eigentum besitzen, und denen, die keines haben. Der Kampf um die Stadt kann deshalb nur einer gegen die herrschenden Verhältnisse sein.«

Vielleicht liegt in Maltes Unsicherheit die Stärke der jetzigen Mieten-Bewegung.

Als ich Malte diese Zeilen vorlese, stutzt er. Die Worte scheinen etwas an Unbehagen auszulösen. Sehr radikal klinge das, so Malte. Ich lese weiter: »Wir wollen eine Gesellschaft, in der Eigentum komplett vergesellschaftet ist und die Wirtschaft der Bedürfnisbefriedigung und nicht dem Profit dient.« Das stimme ja schon alles, so Malte, aber wie das praktisch umzusetzen sei, könne er sich gerade nicht vorstellen.

Aktivist*innen und Mieter*innen aus allen Schichten und Milieus organisieren sich, vernetzen sich, und besetzen Wohnungen. Manche sind empört über ihre hohe Miete, die anderen kämpfen für ihre kleinen Kiezläden und wieder andere sehen in den Mietenprotesten einen Hebel für größere gesellschaftliche Veränderungen. Sie alle kommen jedoch zusammen und tauschen sich aus. Und das Ganze unter dem Label ›enteignen‹. Vielleicht ist ja doch noch nicht alles verloren.