Gebrauchswert und Statussymbol

Von 1966 bis 1986 prägte der Suhrkamp-Verlag das gesellschaftliche Phänomen »Theorie«. Die Geschichte der gleichnamigen Buchreihe hat Morten Paul rekonstruiert. Erschinen in: nd.Die Woche vom 06.05.2023

Bei manchen Büchern weiß man sofort Bescheid. Das Gelb der kleinen Bände der Universal-Bibliothek aus dem Reclam-Verlag erinnert die meisten wohl sofort an den Deutsch-Unterricht in der Schule. Reclam bietet in der Reihe bereits seit 1867 deutsche und internationale Literatur zu einem extrem günstigen Preis an und ist dabei durchaus erfolgreich. Bislang wurden rund 600 Millionen Exemplare verkauft. Ähnlich emblematisch war die von 1955 bis 1980 herausgegebene Reihe rowohlts deutsche enzyklopädie (rde), die ebenfalls durch ihren vergleichsweise geringen Preis bestach. Damit wollte sie dazu beitragen, enzyklopädisches Wissen zu verbreiten. Durch ihre strenge innere Ordnung, die Stichworten einer Enzyklopädie folgten, hielt man an klassischen Vorstellungen fest, wollte jedoch auch die Verbindung zum »modernen Wissen« herstellen.

Als Gegengewicht zur eher konservativ ausgerichteten rde bildete sich zeitgleich in Frankfurt am Main etwas heraus, was später öffentlichkeitswirksam als »Suhrkamp-Kultur« bezeichnet wurde. Ebenso bekannt wie die Reclam-Bände und ebenso einflussreich wie die rde entstand vor 30 Jahren im Frankfurter Suhrkamp-Verlag die Reihe suhrkamp taschenbuch wissenschaft (stw).

Die Entstehung der »Suhrkamp-Kultur«

Die Bücher der stw-Reihe mit ihrer mehr oder weniger gleichbleibend schwarzen Grundfarbe und bunten Titeltexten entwickelten sich zum zentralen Merkmal der »Suhrkamp-Kultur«. Die stw verpflichtete sich einer Demokratisierung und Verbreitung theoretischen Wissens. Als Taschenbuch sollte Theorie möglichst billig unter die Leute gebracht werden. Der Verlag versuchte damit zum Sprachrohr einer neuen, kritischen und offenen Generation zu werden. Kein Wunder also, dass vor allem Schüler*innen und Studierende der 60er Jahre die Suhrkamp-Bände massenhaft kauften. Die Schriften von Jürgen Habermas, Theodor W. Adorno oder Herbert Marcuse erschienen in der stw und wurden dadurch in den Kanon der westdeutschen Theorie- und Philosophiedebatten aufgenommen.

Die Buchreihe stw feiert dieses Jahr ihr 50-jähriges Jubiläum mit Sonderausgaben und Werbeartikeln wie Mützen, Stoffbeuteln, Notizbüchern oder einem Puzzle. Sie ist Kult und Qualitätsmerkmal gleichzeitig geworden. Bis heute kommt es für Autor*innen einem Adelstitel gleich, in der stw zu veröffentlichen. Titel und Autor stehen auf dem Cover der Reihe in selber Größe untereinander und verdeutlichen, dass beides gleichbedeutend ist.

Bücher für den Gebrauch

Mit einer etwas weniger bekannten Vorgängerin der stw hat sich kenntnisreich der Literaturwissenschaftler Morten Paul in seinem jüngst erschienenen Buch »Suhrkamp Theorie. Eine Buchreihe im philosophischen Nachkrieg« auseinandergesetzt. Bereits vor der stw vertrat diese Buchreihe den Anspruch, Theorie massenhaft und erschwinglich zu veröffentlichen. Die Taschenbuchreihe sollte billig sein und zur Bildung eines neuen, kritischen Bewusstseins beitragen. Die Reihe hieß schlicht: »Theorie«. Diese Suhrkamp-Reihe erschien 20 Jahre lang, von 1966 bis 1986. Über 200 Titel nahm der Verlag in die Reihe auf, darunter Grundlagentexte der Geistes- und Kulturwissenschaften: Thomas S. Kuhns »Die Struktur wissenschaftlicher Revolutionen«, Jürgen Habermas’ »Erkenntnis und Interesse«, Louis Althussers »Für Marx« oder Pierre Bourdieus »Zur Soziologie der symbolischen Formen«. Somit wurde die Reihe zu einem der anspruchsvollsten geisteswissenschaftlichen Programme der Bundesrepublik.

Mithilfe des Briefverkehrs zur Produktion zwischen dem Verlag, Autoren, Übersetzern und Beratern sowie auf der Basis von Gesprächen wie etwa mit Jürgen Habermas rekonstruiert Paul die Entstehung der Reihe vor dem Hintergrund der Frage der gesellschaftlichen Relevanz theoretischer Texte. Er beschreibt so ihren Werdegang sowie die zahlreichen praktischen Probleme, den Einfluss, den die Reihe auf die bundesrepublikanische Theorielandschaft ausübte und schließlich den Niedergang der Reihe.

Doch der Reihe nach: Wie kam es überhaupt zur »Suhrkamp-Kultur« und wie entwickelte sich der Verlag nach dem zweiten Weltkrieg? 1959 hatte der Verleger Siegfried Unseld den Suhrkamp-Verlag übernommen und wollte ihn stärker der Essayistik und der Wissenschaft öffnen. Taschenbücher erschienen Unseld dafür die geeignete Form zu sein. Unseld wollte mit der neuen »Theorie«-Reihe »eine theoretische Basis für das Selbstverständnis unserer Zeit« sowie eine Grundlage für das »kritische Bewusstsein der heutigen Zeit« liefern: Die Bücher sollten »für das Studium bestimmt sein – für den Gebrauch«, heißt es in einem Brief. Damit wollte er eine neue Leserschaft mit eigenen, kritischen Interessen jenseits des Bürgertums erreichen. Jacob Taubes, damals Verlagsberater von Unseld und Herausgeber der »Theorie«-Reihe, sprach davon, den wissenschaftlichen Markt mit der Reihe zu »überrennen«. Das ist geglückt. Kaum ein anderer Verlag hat die intellektuellen Debatten der 60er und 70er Jahre so sehr bestimmt wie Suhrkamp.

Der Verlag stieß mit seinen Publikationen in der Aufbruchphase der 60er Jahre somit auf offene Ohren. Es gab ein gesellschaftliches Bedürfnis nach kritischer Theorie und Philosophie. 1963 wurden Bücher von Adorno, Wittgenstein, Bloch im Suhrkamp-Verlag in einem Monat jeweils zu 10 000 Stück verkauft. Paul rekonstruiert, dass es sich dabei eher um einen verlagsinternen Zufall gehandelt hatte: Bei Suhrkamp gab es zu dieser Zeit kaum eigene theoretische Expertise, wie der Autor aus der Analyse von zahlreichen Briefen und Protokollen nachweisen kann. Dem Verleger Unseld gelang es jedoch, führende Theoretiker der Zeit wie Jürgen Habermas und Hans Blumberg an den Verlag zu binden und zu Herausgebern der neuen »Theorie«-Reihe zu machen.

Sie bestimmten die Reihe mit anderen Intellektuellen wie Jacob Taubes über die nächsten Jahre. »Theorie«, das war im Namen bereits angelegt, verpflichtete nicht auf spezifische Inhalte, sondern lediglich auf ein theoretisches Niveau. Die Konzeption der Reihe blieb über die Jahre fluide und stark von Kontingenzen bestimmt. Als »Kraut und Rüben« wurde das Programm der Reihe daher sogar einmal in einem internen Brief bezeichnet.

Übersetzungsprobleme

Insbesondere das Verhältnis der theoretischen Theorieströmungen des (französischen) Poststrukturalismus und der (deutschen) Kritischen Theorie wurde bedeutend für die Reihe. Der poststrukturalistische Theoretiker Derrida wurde in »Theorie« erstmals ins Deutsche übersetzt und stand direkt neben den »Frankfurtern« wie Adorno. Insbesondere anhand der Übersetzungen Suhrkamps von französischen Büchern macht Paul deutlich, wie sehr Buchproduktion und Theorie keine reine Sache des »Geistes« ist, sondern nicht zuletzt an materielle (Beförderungs-)Bedingungen gebunden ist. Die Namen »Suhrkamp« und »Frankfurt« suggerieren eine Einheit, die es so nie gegeben hat. An der Buchproduktion sind neben den (internationalen) Autor*innen zahlreiche weitere Personen beteiligt. Bücher sind keine Ergebnisse von »Genies«, sondern entstehen aus der Zusammenarbeit von Schreibenden, Verlagen, Sekretär*innen, Beratern, Übersetzer*innen und Postboten. Neben dieser überzeugenden Darstellung der literarischen Produktionsverhältnisse gelingt es Paul ebenso zu zeigen, wie sehr die Entscheidungen zur Publikation von Büchern ebenso stark von einer affektiven Dimension mitbestimmt sind. Anhand von Briefen und dem rhetorischen Einsatz der Schreibenden in ihnen verdeutlicht der Literaturwissenschaftler Paul, manchmal sehr amüsant, wie im Verlag Entscheidungen für oder gegen Bücher getroffen wurden.

Die »Theorie«-Reihe war trotz zahlreicher Debatten und Wechsel der Herausgeber – 1976 kam der Bielefelder Soziologe Niklas Luhmann in das Herausgeber-Kollektiv – lange die theoretische »Speerspitze« des Suhrkamp-Verlags. Doch angesichts der Erfolge der weiteren hausinternen Buchreihen, vor allem der stw macht Paul am Ende deutlich, warum die »Theorie«-Reihe letztlich scheitern musste.

Höhepunkt und Niedergang

Theoretische Bücher wurden für den Suhrkamp-Verlag rentabel und dieser wuchs stetig. 1959 arbeiteten drei Mitarbeiter im Verlag, die 37 Bücher produzierten und einen Umsatz von 1,8 Millionen D-Mark erwirtschafteten. Zehn Jahre später waren es 87 Mitarbeiter*innen, 185 Bücher und ein Jahresumsatz von 12 Millionen D-Mark. Die »Suhrkamp-Kultur« hatte nun auch eine materielle Basis. Nur: Die »Theorie«-Reihe verkaufte sich immer schlechter, machte dem Verlag ein Minus und war somit nicht mehr theoretischer »Schrittmacher« des Verlags. Die 1973 gegründete stw war näher am Puls der Zeit. Ihr Erfolg leitete das Scheitern der »Theorie« ein, die keine Neuauflagen mehr erlebt. Der stw gelang es einen »antikanonischen Kanon« aufzubauen. Der Markenname »Suhrkamp« war für die Käuferschaft aussagekräftig genug geworden, daher brauchten es keine eigene »Theorie«-Reihe mehr. Sie fiel schließlich dem Vergessen anheim. Morten Paul hat diesen vergessenen Schatz in seiner Dissertationsschrift gehoben, die seinem Buch zugrunde liegt.

Paul ist ein ansprechendes und schlaues Buch gelungen, in dem er anhand der »Theorie«-Reihe den Produktionsprozess von Büchern deutlich machen kann. Sie sind eben nicht nur von der Qualität der Manuskripte, sondern von Moden, (Verlags-)Politik und Kontingenzen abhängig. Paul liefert einen Einblick in den häufig umkämpften Verlagsalltag und macht diesen erleb- und nahbar. Und nicht zuletzt ist dem Verlag Spector Books eine ansprechende Aufmachung des Buchs gelungen, das selbst an die »Theorie«-Reihe angelehnt ist und die sich schlicht wunderbar im Buchregal macht – neben Reclam-Heften und weiteren Suhrkamp-Bänden.

Morten Paul: Suhrkamp Theorie. Eine Buchreihe im philosophischen Nachkrieg. Spector Books 2023, br., 350 S., 34 €.