Akademische Suchbewegungen

Eine Konferenz in Berlin diskutiert die Erneuerung des Klassenbegriffs – mit einem ökologischen Schwerpunkt.
Erschienen in: Neues Deutschland vom 03.11.2019

Viel hatten sie sich vorgenommen. Rund 100 Teilnehmer*innen waren der Einladung der Rosa-Luxemburg-Stiftung und des Instituts für Soziologie der Universität Jena nach Berlin gefolgt, um an der Tagung »Neosozialistische Klassenpolitik in der ökonomisch-ökologischen Doppelkrise« am vergangenen Freitag und Samstag teilzunehmen. Am sperrigen Titel ließ sich bereits die Bandbreite der Thematik erahnen. So legte Mario Candeias, Direktor des Instituts für Gesellschaftsanalyse der Rosa-Luxemburg-Stiftung direkt zu Beginn den ambitionierten Fahrplan für die Tagung vor. Es skizzierte drei Linien. Zum einen sollte es bei der Tagung um die Diskussion der Forschungsergebnisse des Projekts Klassenanalyse Jena (PKJ) um Klaus Dörre aus Jena gehen. Zum anderen wurden vielfältige Erweiterung klassenanalytischer Fragestellungen diskutiert und drittens sollte die Klassenpolitik um eine ökologische Dimension ergänzt werden. Viel Stoff also.


Das PKJ arbeitet seit einiger Zeit wissenschaftlich an einer Erneuerung des Klassenbegriffs. Zahlreiche Forschungsergebnisse des Projekts wie über den Zusammenhang zwischen Klasse und Geschlecht, Klasse und Rassismus sowie Klasse und Öffentlichkeit wurden vorgestellt und diskutiert. Diese meist deskriptiven – ohne Zweifel aber sinnvollen und guten – Darstellungen blieb in erster Linie für Soziolog*innen interessant. Daneben gab es zahlreiche Workshops, die verschiedene Erweiterungen des Klassenbegriffs bearbeiteten. In diesen Workshops kam der Untertitel der Konferenz »Tagung zu Klassenanalyse und -politik« zum Tragen: so diskutierten Gewerkschafterinnen mit Soziologen und Studierende mit Aktiven aus der Linkspartei unterschiedliche Themen so wie Wahlergebnisse der AfD, Klassenfraktionen und Abstiegsängste ebenso wie Veränderungen in der Automobilindustrie. Eine solche Zusammenkunft ist sicherlich sinnvoll, jedoch wurde durch die Themenbreite und die teilweise sehr langen Wortbeiträge eine konsistente und konzentrierte Diskussion nicht immer möglich. Zwar wurde theoretische Analyse und konkrete Politik zusammen diskutiert, dabei war aber nicht immer klar, auf welchem Feld man sich gerade befand. Einig war man sich jedoch in der Existenz einer Klassengesellschaft in der BRD, in der der Klassenkampf jedoch verdeckt ablaufe. Klaus Dörre sprach von einer demobiliserten Klassengesellschaft. So stehe der geringe gewerkschaftliche Organisationsgrad von lediglich 18 Prozent einem wachsenden Bewusstsein zu steigender sozialer Ungleichheit gegenüber.

Am zweiten Tag kamen dann zunehmend Aktivist*innen selbst zu Wort. So diskutierten beispielsweise Aktivistinnen von Fridays for Future mit Hans-Jürgen Urban von der IG Metall über radikal-ökologische Klassenpolitik und Grünen Sozialismus. Sie kamen zum gemeinsamen Schluss, die Klimafrage als Klassenkonflikt betrachten zu müssen. So wurde dabei der enge Zusammenhang zwischen Klimapolitik und sozialer Ungleichheit diskutiert und erörtertet. So gehe der CO²-Ausstoß in erster Linie auf die Produktion von Luxusgütern zurück. Ebenso sei die untere Hälfte der Weltbevölkerung für nur drei Prozent der CO²-Emissionen verantwortlich.

Diese Verhältnisse ließen sich nur mit einer »radikal ökologischen Klassenpolitik« (Mario Candeias) verändern. Dafür müssten Umwelt- und Gewerkschaftsbewegung »große Bündnisse schmieden« wie es Nina Papenfuß von Students for Future ausdrückte. Auch von Gewerkschaftsseite wurde dies unterstützt. Hans-Jürgen Urban machte aber auch auf kulturelle Unterschiede zwischen Klima- und Gewerkschaftsbewegung aufmerksam. Daher müsse man daran arbeiten, einen »Umgang zu finden, damit die Bündnisse nicht direkt bei jedem Konflikt um die Ohren fliegen.«

Ebenso bestand Einigkeit darin, dass individuelle Lösungsstrategien alleine nicht ausreichen werden. »Besser als den SUV selbst nicht zu fahren, ist den SUV nicht zu bauen«, so wie es Klaus Dörre ausdrückte und damit einen grundlegenden Wandel der gesellschaftlichen Produktion und Reproduktion forderte. Sein jüngst erschienenes Buch heißt dahingehend auch »Neosozialismus«


Viel hatten sie sich also vorgenommen. Für zwei Tage war die Themenbreite der drei Stränge, die jeweils eine eigene Konferenz verdient hätte, zu viel. Ebenso zeigte die Konferenz das Problem der aktuellen wissenschaftlichen Debatten um Klassenpolitik auf. Sie bleiben solange akademisch, bis es ihnen gelingt, sich in den konkreten Klassenkämpfen zu verfestigen. Dies wird dann jedoch nicht mehr mit Konferenzen in Stiftungsgebäuden erreicht.