Du lebloses, verdammtes Automat!

Timo Daum entmystifiziert den Populismus schlauer Maschinen.
Erschienen in: Der Freitag

Fünf Milliarden Menschen benutzen Smartphones. Durch Suchanfragen, das Verschicken von Fotos und Nachrichten und Online-Käufe generieren sie damit einen nicht enden wollenden Strom an Daten. Für Timo Daum sind diese das „Gold des digitalen Kapitalismus“. Der studierte Physiker Daum erhielt 2018 für Das Kapital sind wir den Preis „Das politische Buch“ der Friedrich-Ebert-Stiftung. Dort legte er eine wunderbare Einführung in den digitalen Kapitalismus vor und scheute nicht, aktuelle Diskussionen um Digitalisierung klug mit marxistischer Terminologie zu verbinden.

Daran schließt er nun in seinem aktuellen Buch Die Künstliche Intelligenz des Kapitals an. Hier stellt er die Frage, was mit all den Daten, die wir tagtäglich produzieren, so passiert und wie sie ver- und ausgewertet werden. Ein entscheidender Aspekt hierfür ist Künstliche Intelligenz (KI) – eine Technologie, die mehr und mehr in Massenprodukte einfließt und zum wichtigen Markt wird. Daum begibt sich auf eine historische und begriffliche Spurensuche: Was ist eigentlich Intelligenz? Und ist das ein adäquater Begriff für Software, deren Reaktionen wir intuitiv für intelligent halten und damit großes Vertrauen schenken? Wie lernen Algorithmen? Lassen sich ihre Schlussfolgerungen verstehen? Und woher kommt die Idee von KI?

Wenn heute davon die Rede ist, handelt es sich, so Daum, „in den allermeisten Fällen um einem Teilbereich, der sich mit maschinellem Lernen überschreiben lässt“. Damit sind Verfahren gemeint, die es Maschinen ermöglichen, Wissen je nach Situation neu und verbessert anzuwenden – also sozusagen zu lernen. Aktuell geht es dabei um relativ profane Dinge wie Software, die Personen oder Gegenstände auf Bildern erkennt oder menschliche Sprache analysiert und adäquat darauf reagieren kann.

Wenn es also nur darum geht und keine Superroboter vor der Türe stehen, vor denen der KI-Pionier Marvin Minsky bereits Anfang der 1950er Jahre warnte, dass diese so intelligent sein würden, „dass wir von Glück sagen können, wenn sie uns noch als Haustiere um sich haben wollen“, warum gibt es gerade so ein großes Aufsehen um KI?

Timo Daum beantwortet die Frage eindeutig: KI stehe im Zentrum des digitalen Kapitalismus. Für diesen seien Plattformen wie Facebook oder Uber, die auf der Verwertung von Daten beruhen, zentral. Nicht mehr die Ausbeutung der menschlichen Arbeitskraft, sondern die Extraktion von Daten gerate in den Fokus der ökonomischen Aktivität. Die Plattformen machen sich die Schwarmintelligenz des „general intellect“ (Marx) zunutze und häufen Reichtum durch die algorithmische Analyse von Daten und deren Verwertung an. Damit grenzt Daum den digitalen vom industriellen Kapitalismus der fordistischen Warenproduktion ab.

Wer kontrolliert die Algorithmen?

Der erste Teil des Buches ist ein Parforceritt durch die Geschichte der KI: von der Geburtsstunde der Algorithmen bis hin zu aktuellen Entwicklungen. Daum geht dabei der Frage nach, was eigentlich Intelligenz ist. Wenn Algorithmen dazulernen, wie machen sie das? Wie kommen sie zu ihren Lernfortschritten? Können ihre Schlussfolgerungen überhaupt noch nachvollzogen werden? Oder sind diese zu Black Boxes geworden, die niemand mehr verstehen kann?

Im politischen Kontext stellt er die Fragen, wer über die Algorithmen kontrollieren kann, wer überhaupt für eine solche Kontrolle zuständig sein soll und wem die Algorithmen und Daten gehören. Wenn KI bei Kreditverträgen, Jobvergabe, der Höhe von Versicherungsbeiträgen und sogar bei der Rechtsprechung Einfluss nimmt, wenn Sprachassistenten unseren Alltag ständig begleiten, was bedeutet das für die Einzelnen? Wenn globale Unternehmen mit KI Geld verdienen, was bedeutet das für die Gesellschaft?

Anhand aktueller Beispiele wie selbstfahrender Autos spielt Daum diese rechtlichen, politischen, aber auch ethischen Fragen durch: Wie verhält es sich, wenn eine KI einem anderen Fahrzeug die Vorfahrt nimmt? Oder wer haftet bei einem Verkehrsunfall mit führerlosen Klein-Bussen, die beispielsweise auf dem Gelände der Berliner Charité und des Virchow-Klinikums im Einsatz sind? Für Daum sind solche Fragen von Extremfällen jedoch in erster Linie Nebelkerzen eines Populismus um KI. Vielmehr versucht er, konzise linke Forderungen aufzustellen. Was sein Buch dabei ebenso wie sein Vorgängerwerk auszeichnet, ist die Tatsache, die technischen Entwicklungen nie unabhängig zu denken, sondern immer auch die Entwicklung der kapitalistischen Produktionsweise zu betrachten. Dabei verfällt er weder einem stumpfen Technikoptimismus, noch einer romantischen Abkehr jeglicher technischer Neuerungen. Er argumentiert sehr klar und eindeutig: „Roboter sollten Tätigkeiten, die sie beherrschen, auch übernehmen (dürfen). Menschen sollten nur Tätigkeiten verrichten, die Maschinen nicht können.“ Auch sein Ausblick erscheint für die politische Linke durchaus sinnvoll. Für Daum sollen Daten und Algorithmen Commons werden, „eine Art Wikipedia für alles“. Dafür müsse man jedoch die Eigentumsfrage stellen. Ziel sei es, „das Wissen der Welt in Form einer öffentlichen, gut strukturierten Bibliothek zu organisieren und geplant einzusetzen.“

Nach der Arbeit ist vor der Arbeit

Mit der konkreten Beschreibung, was KI genau ist, trägt er viel zu De-Mystifikation dieses schillernden Begriffs bei. Daum stellt dafür neue Fragen. Es sei nicht von Bedeutung, „ob oder wie intelligent ein Algorithmus oder eine Maschine“ sei, sondern „welche Aufgaben sie wie genau lösen. Wir sollten auch fragen: Wem gehören sie, welche Ziele verfolgen ihre Herren, und was macht das mit uns?“ Ein solches Verständnis von KI nimmt ihr die „metaphysische Aura“, so Daum – und er hat Recht damit.

Hier leistet Daum gute Arbeit. Das Buch ist erfrischend geschrieben, die schönen Illustrationen von Susann Massute ergänzen es wunderbar. Nur in seiner marxistisch inspirierten Rahmung schießt Daum manchmal über das Ziel hinaus. Sätze wie „Dabei dürfte die historische Tendenz klar sein: Das Kapital schafft die Lohnarbeit zusehends selbst ab“ würden Marx selbst wohl ein paar Falten auf die Stirn zaubern, da sie sein Werk auf ein paar wenige Seiten des – aktuell gerne zitieren – Maschinenfragments von 1858 reduzieren. Zum einen könnte man gegen diese verkürzte Marx-Lektüre ganz nüchtern und empirisch den globalen Kontext betrachten und würde zum Schluss kommen, dass für alle Software, die wir benutzen, immer noch Hardware notwendig ist und dass das globale Proletariat, das weltweit seltene Erden für unsere Elektrogeräte abbaut, so groß ist wie noch nie. Zum anderen stellt sich aber auch mit Marx das theoretische Problem, dass Arbeit immer weitere Arbeit nach sich zieht und es nicht passieren wird, dass uns die Arbeit ausgeht.

Sicherlich braucht es für die Veränderungen durch Big Data, KI und Digitalisierung der Arbeitswelt eine politische Ökonomie auf Höhe der Zeit. Was es nicht braucht, ist eine „Theorie der Digitalisierung“. Nicht alles wird digital, smart und vernetzt, wie es viele Apologeten des Digitalen vermuten. Es entsteht lediglich ein digitales Abbild einer Wirtschaftsordnung, die – immer noch – auf Ausbeutung konkreter menschlicher Arbeitskraft beruht. Das scheint auch Timo Daum zu wissen. Es schadet aber nicht, es zu wiederholen.

Die Künstliche Intelligenz des Kapitals Timo Daum Nautilus Verlag 2019. 192 S., 16 €.