Initiativbewerbung an alle

Onlinedating verändert das intime Leben, aber tötet nicht die Liebe

Erschienen in Neues Deutschland vom 16.06.2018

Menschenleere Fabriken und Büros, Roboter in der Pflege – und immer und überall dabei: das Smartphone, das jeden einzelnen Schritt misst und damit zu unserem persönlichen Fitnessberater wird. Die Digitalisierung krempelt den Alltag zumindest der mittleren und jüngeren Generationen gehörig um. Davon ist nicht zuletzt die Art und Weise betroffen, wie wir Beziehungen führen und uns kennenlernen oder neudeutsch: »uns daten«.

Von der mittelalterlichen Minne bis zu den Bällen oder Jahrmärkten des 18. und 19. Jahrhunderts, vom traditionellen Volksfest bis zur Disko der 1970er Jahre: Intime Beziehungen unterliegen einem stetigen Wandel, die Wege der Anbahnung wie auch die Geschlechterrollen und Erwartungen in Beziehungen unterscheiden sich in der Geschichte fundamental. Und immer schon sorgten Veränderungen des Sich-Näherkommens zuverlässig für entrüstetes Kopfschütteln zumeist der Älteren.

Vielleicht zeigt sich insofern gerade in der Gestalt, die das Intimste jeweils annimmt, die soziale Ordnung besonders deutlich. Auch daher lohnt der Blick auf Liebe und Begehren in den Zeiten der viel zitierten »digitalen Revolution«. Ist mit dieser – nach derjenigen, die 1968 stattgefunden haben soll – auch eine weitere Revolution der Intimität verbunden? Oder bleibt am Ende eigentlich alles beim Alten? Die Antwort lautet: Ja – und auch nein.

Denn einerseits bleibt es wie schon vor Jahrzehnten. »Kennenlernen« bedeutet: eine Verabredung zum Kino, zum Essen, zum Spaziergang oder in einer Bar. Wie schon die Eltern und Großeltern macht sich die heutige Jugend schick vor einem Rendezvous, ist aufgeregt, hegt Erwartungen, erlebt Freude und Anerkennung – oder eben Gefühle von Enttäuschung und Zurückweisung.

Doch unter dieser Oberfläche ist heute eine Welt, die bis vor Kurzem kaum vorstellbar war. Unter den Methoden der Anbahnung ist offenbar eine dominierend geworden, die früher ein Randphänomen darstellte: das Suchen per Kontaktanzeige.

Noch vor gar nicht langer Zeit platzierte man Textstummel à la »Mittdr., junggbl., attr., fin. unabh., s. pass. Begl. f. Freiz. u. mehr, Bln./Bbg.« in den Chiffre-Kleinanzeigen einer Zeitung und bekam im Erfolgsfall Briefe, die man beantworten konnte oder nicht. In heutigen interaktiven Medien herrscht eine ganz neue Dynamik – und Normalität: Galten die unbebilderten Zeitungsinserate immer als ein wenig peinlich (als sei man »übrig geblieben«) und waren oft tatsächlich »letztes Mittel«, ist Onlinedating heute bei Jüngeren eine alltägliche Kulturtechnik, die manchmal eher aus Neugier betrieben wird oder dem Zeitvertreib dient.

Es begann um 2000 mit aus heutiger Sicht limitierten Angeboten. Heute sind entsprechende »Apps« auf den Mobilgeräten stets dabei – und haben weltweit gut 200 Millionen Mitglieder. »Grindr«, ein Portal für Homosexuelle, war vor etwa zehn Jahren hierbei der Pionier. Heute gibt es unübersehbar viele. 37 Prozent aller Deutschen waren schon bei einem oder mehreren Portalen angemeldet, Tendenz steigend. Die Bandbreite reicht von Portalen wie »Parship«, die 350 Euro für ein halbes Jahr verlangen, bis zu werbefinanzierten und Plattformen wie »Tinder« oder »OkCupid«.

Diese beiden weltweit genutzten Portale markieren die Pole, zwischen denen sich die Strategien der digitalen Partnersuche bewegen: »Tiefsinn« versus »Optik«. Die etwas ältere (und wohl auch von etwas älteren Menschen benutzte) Plattform »OkCupid« bietet natürlich auch die Möglichkeit, ein oder mehrere Fotos zu veröffentlichen, ist im Grunde aber textbasiert. Dort angelegte Profile geben oft umfassend Aufschluss über kulturelle, literarische und sexuelle Vorlieben – sowie gar nicht selten sogar über politische Orientierungen. All das soll als Aufhänger für »Gespräche« dienen; entsprechende Rubriken animieren dazu, derlei zur allgemeinen Kenntnis zu geben. Hinzu kommen noch Hunderte mit Ja, Nein oder Vielleicht zu beantwortende Fragen, aus deren gewichteter Beantwortung ein in Prozentzahlen ausgedrückter »Sympathiegrad« zwischen Nutzerinnen und Nutzern errechnet wird.

Die etwas jüngere Plattform »Tinder« hingegen reduziert die Selbstanpreisung auf zunächst ein einziges Foto: Gefällt ein angezeigtes Bild, ist dieses durch ein Wegwischen nach rechts als interessant einzustufen. Erst wenn das auf Gegenseitigkeit beruht, kann eine Unterhaltung mittels Nachrichten gestartet werden. Durch den Fokus auf das Profilbild treibt »Tinder« die Oberflächenorientierung von Onlinedating quasi auf die Spitze – mit enormer Resonanz: Nach eigenen Angaben wird dort täglich bis zu 1,4 Milliarden Mal über das Display gewischt, was rund 26 Millionen »Treffer« generieren soll.

Obwohl sich die konkreten Strategien, die diese Plattformen erfordern, erheblich unterscheiden, kultivieren sie doch die gleiche soziale Kompetenz: Sie sind Übungsplätze des Bewerbens, der Kardinaltugend einer flexibilisierten kapitalistischen Ökonomie. Wer »Erfolg« will auf solchen Plattformen, ist zu einer rückhaltlosen Selbstbewertung angehalten: »Reicht« die eigene Äußerlichkeit im Verhältnis zu gängigen Idealen von Schönheit, um im Foto-Wisch-Wettbewerb zu bestehen? Oder sind Formate erfolgversprechender, in denen Geschmack, Belesenheit, Sprachbeherrschung in originellen Texten demonstriert werden können? Wie kann ich mich abheben? Was macht mich besonders?

Folgt man Andreas Reckwitz, dem derzeit sehr prominenten Kultursoziologen aus Frankfurt (Oder), besteht im Anlegen und Pflegen von »Profilen« der postmoderne Imperativ für alle Lebensbereiche. Schien in den 1950er Jahren das »Normale« erstrebenswert, sei heute »Singularität« das gesellschaftliche Muss: Herausstechen aus der Masse, absolute Individualität. Auf Datingportalen wird dieser Wille und Zwang zum Besonderen nicht nur konkret – und freiwillig – trainiert, sondern zeigt sich auch dessen Frustrationspotenzial: Die Lockfotos auf »Tinder« wie die Selbstwerbestrecken auf »OkCupid« zeigen, weil alle Nutzerinnen und Nutzer viel Sorgfalt auf die möglichst einzigartige Kuratierung ihrer Initiativbewerbung an alle verwenden, einen frappierenden Trend zur ästhetischen Vereinheitlichung.

Der Zwilling der Werbung ist bekanntlich der Konsum; bereits Karl Marx nennt die Welt eine »ungeheure Warensammlung«. Zumal »Tinder« überträgt dies auf das intime Kennenlernen: Es gibt hier ein ständiges Überangebot an Menschen, das überfordern kann. Sowohl im Konsum von Waren als auch solcher Profile wird Langfristigkeit ersetzt durch das Ungefähre: Warum sollte man sich dauernd und ernsthaft binden, wenn jederzeit ein neues »Match« auf das Display hüpfen kann? Das Bessere und Neuere ist, sofern man ausreichend Gegenwert besitzt, stets nur einen Klick entfernt – bei potenziellen Partnerschaften wie beim neuesten iPhone. Und so ist das Entsorgen bequemer als das Reparieren.

Die gute alte romantische Liebe, sie steht schwerstens unter Beschuss. Der Theaterregisseur Patrick Wengenroth hat das drastisch auf die Bühne gebracht; im Januar 2018 hatte sein Stück »Love hurts in Tinder times« an der Berliner Schaubühne seine bejubelte Premiere. Liebe wird Ware, wird Transaktion: »Jeder ist ein Produkt auf dem Markt. Und wenn sich mehr Menschen für uns interessieren, fühlen wir uns besser: wenn wir viele Likes auf Facebook kriegen oder ein Match auf Tinder. Wenn uns viele Leute sagen, wie toll wir sind, fühlen wir uns anerkannt«, so Wengenroth. Und diese Anerkennung steht auf tönernen Füßen, denn wo alles im Überfluss vorhanden ist, steht auch alles zur Disposition. Wenn Erwartungen und Projektionen nicht erfüllt werden, tauscht man das Produkt einfach um: eine brutale Logik, die Menschen tief verletzen kann.

Doch kann man den Kulturpessimismus auch übertreiben. »Oberflächlichkeit« klingt nur im Gegensatz zur romantischen Erfindung der absoluten Liebestiefe schlecht. Und entstanden ist dieselbe auch nicht auf »Tinder«, sie lauert an jedem Tresen nicht minder als im Internet.

Schon immer haben Menschen körperlich für sich geworben und daran Gefallen gefunden, ihren »Marktwert« in sozial geregelten Ritualen folgenlosen Flirtens zu prüfen. Neu ist allerdings, dass sich dieses Werben im Internet immer weniger an konkrete Adressaten richtet. Diese Abstraktion von einem bestimmten Gegenüber verschiebt den Fokus dieser Handlungen vom Anderen auf das Ego. Sie birgt auch eine Unverbindlichkeit, die es früher so nicht gab.

Dieselbe hat freilich auch etwas Befreiendes. Früher war nicht alles besser, schon gar nicht die traditionelle Ehe zwischen Mann und Frau. Dass das Beenden von Beziehungen eine neue Normalität gewinnt, hat auch mit Selbstermächtigung von Frauen zu tun.

Der Selbstversuch mit »Tinder« zeigt: Auch hier lernen sich Menschen kennen und kommen ins Gespräch. Wenn sie sich dann in Fleisch und Blut gegenübersitzen, nervös, abgeklärt oder lustlos, kann Verliebtheit entstehen – oder eben nicht. Daran ist die Plattform aber dann unschuldig. Die digitale Revolution frisst nicht die Liebe auf. Diese bleibt eine private Revolution, die uns in Mark und Bein erschüttert. Der Philosoph Alain Badiou nennt die Liebe das Ereignis schlechthin. Die Möglichkeit dieses Augenblicks, der das Leben aus der Bahn wirft, wird auch von »Tinder« nicht zerstört.