An Schlaf ist nicht zu denken

Die Rapperin Kate Tempest hat aus den Texten ihres letzten Albums „Let Them Eat Chaos“ ein Langgedicht gemacht, das jetzt bei Suhrkamp auf Deutsch erschienen ist.
Erschienen in: Neues Deutschland vom 27.06.2019

Let them eat Chaos (Sollen sie doch Chaos fressen) ist die Geschichte von sieben Menschen, die nicht schlafen können. Aus unterschiedlichen Gründen sind sie um genau 4:18 Uhr morgens wach und verkörpern durch ihre Einsamkeit die Missstände und die Sorgen der modernen Großstadtmenschen. Sprachgewaltig zeichnet die Rapperin Kate Tempest in ihrem Text die Schicksale der sieben auf. Eine Uhrzeit, eine Straße in London, ein Gefühl des Verlassen-Seins und doch ganz unterschiedliche Geschichten und Gründe für die Schlaflosigkeit.

Kate Tempest, die der Deutschlandfunk als „die wohl bedeutendste Poetin Englands“ bezeichnet, hat bereits 2016 ein Rap-Album mit dem gleichen Titel veröffentlicht. Nun hat sie daraus eine Art Langgedicht gemacht und der Suhrkamp-Verlag hat das Gedicht ins Deutsche übersetzen lassen, wo es nun als zweisprachiger Band in der edition suhrkamp vorliegt.

Tempest beginnt buchstäblich mit einer Aufsicht auf die Welt, der Globus erscheint als weit entfernter Punkt. Immer näher zoomt sie heran, immer enger wird der Fokus gelegt, bis wir schließlich in einer Straße in London angekommen sind, in der die Hauptfiguren des Gedichts leben, jedoch isoliert. Voneinander wissen tun sie nicht.

Sie heißen Gemma, Esther, Alicia, Pete, Bradley, Zoe und Pious, sie sind Pflegerinnen, Arbeitslose, PR-Berater. Sie finden keinen Schlaf. Selbst wenn sie finanziell keine Sorgen haben, haben sie Angst vor dem nächsten morgen: bei den einen sind es Alkohol und Drogen, bei dem anderen Überarbeitung. Tempest schmückt die einzelnen Szenen und die Portraits mit so vielen und anschaulichen Details, dass man förmlich in das Leben der Personen gezogen wird. Da findet man die dunkele Erdgeschosswohnung mit den wackeligen Jalousien oder die glücklose Suche nach guten Drogen. Doch auch die Innerlichkeit der Protagonist_innen wird beschrieben. Die Ängste und die Verzweiflung einer Generation werden gezeigt. Entfremdung ist das Gefühl, dass über dem Gedicht steht. Die Welt ist bei Tempest aus den Fugen, die Koordinaten völlig verschoben: „Eine halbe Generation in Armut –// tja, doch jetzt ist Happy Hour// im Kneipenviertel“. Die Hauptfiguren stehen für eine gesamte Generation, der das Maß abhanden gekommen ist: „Europa ist kaputt// Amerika ist kaputt// London ist kaputt// Und wir machen immer noch Siegeslärm.“

Am Ende zoomt Tempest nicht wieder in das Weltall zurück, sondern bleibt auf den Straßen Londons. Ein Gewitter lässt die Charaktere auf die Straße treten und sich begegnen. Der Entfremdung und der Einsamkeit setzt Tempest die Liebe entgegen. Sie endet ihr Gedicht mit: „Ich flehe die Menschen an, die ich liebe,// wacht auf// und liebt mehr.“ Ob dadurch bereits Widerstand entstehen kann ist fraglich. Notwendig ist es ohne Zweifel, aber nicht hinreichend.

Ein gelesene deutsche Übersetzung kann dem englischen Original – zudem noch lässig hin gerappt von Kate Tempest – nicht das Wasser reichen. Trotzdem hat die Übersetzerin Johanna Davids einen guten Job gemacht. Ihre Übertragen ist ebenso wie das Original ein Text der Alltagssprache – ohne sich einem Slang anbiedern zu wollen. Sie hat ein gutes Gespür für Sprache und ihren Klang. Die Jamben, die Tempest in ihrem Text verwendet, kann sich teilweise wunderbar übertragen und doch gehen viele der (Binnen)Reime des Originals verloren. Gerade in der Kürze und der Rotzigkeit der Sprache von Tempest liegt die Stärke des Textes. Wenn man nun die beiden Versionen in direkter Gegenüberstellung lesen kann, wird die Schwerfälligkeit der deutschen Sprache sichtbar.

„This poem was written to be read aloud“ (Dieses Gedicht wurde zum laut lesen geschrieben) stellt Tempest ihrem Text voran. Wer dies mit dem englischen Text macht, wird sofort in den Sog der Sprache gezogen, der deutschen Übersetzung fehlt diese Kraft leider.