»Ein wichtiges Ziel für islamistische Rekrutierer«

Ein Gespräch über das lange Zusammenleben von Christen, Muslimen und Juden, die Rolle von Religion beim Bosnienkrieg und die Bedeutung des Islam im heutigen Bosnien-Herzegowina

Erschienen in der Jungle World 01/18

 

Sarajevo wird häufig als das Jerusalem Europas bezeichnet. Die drei großen monotheistischen Religionen sind dort zu finden. Wie kam es dazu?
Die religiöse Vielfalt Bosniens geht letztlich auf seine Grenzlage seit der Spätantike zurück. Nach der Teilung des Römischen Reichs im Jahr 395 gehörte die Region politisch wie religiös mal mehr zu Rom, dann wieder eher zu Konstantinopel. Auch als Teil des Osmanischen Reiches seit dem 15. Jahrhundert war Bosnien stets Grenzland zwischen Orient und Okzident. Die Osmanen bewegten hier mehr Christen zur Konversion zum Islam als andernorts auf dem Balkan. Parallel dazu wirkte die osmanische Religionspolitik, die Christen und Juden zwar nicht als gleichwertig mit Muslimen behandelte, aber doch dauerhaft tolerierte. Sephardische Juden kamen nach der Vertreibung aus Spanien ab Mitte des 16. Jahrhunderts nach Bosnien. So entstand ab dem 16. Jahrhundert ein eng verwobenes und langes Zusammenleben von Christen, Muslimen und Juden, das bis heute anhält. Eine historisch so lang andauernde und große religiöse Vielfalt findet man sonst kaum in Europa. So stehen in Sarajevo Synagogen, Moscheen und verschiedene Kirchen seit bald 500 Jahren nur wenige hundert Meter voneinander entfernt.

Von 1992 bis 1995 gab es dann den Bosnienkrieg – je nach Lesart als Bürger- oder Religionskrieg bezeichnet. Welche Rolle spielten die Religionen im Krieg?
Religion war nicht die Ursache und nicht die Hauptmotivation der postjugoslawischen Kriege der neunziger Jahre, sondern territoriale Machtpolitik. Dennoch befeuerte religiöse Rhetorik, insbesondere von Seiten religiösen Personals, die Konflikte erheblich. Man kann allen Religionsgemeinschaften den Vorwurf machen, zu wenig gegen die Gewalt gegen Andersgläubige getan und zu selten gegen religiös begründeten Hass in den eigenen Reihen das Wort erhoben zu haben. Dieser Verantwortung sollten sich alle Glaubensrichtungen in Bosnien stellen. Während des Kriegs spielte Religion jedoch sowohl für die Täter als auch für die Opfer von Gewalt eine wichtige erklärende, legitimierende und mobilisierende Rolle. Dass Menschen aufgrund ihrer religiösen Zugehörigkeit Opfer kriegerischer und sexueller Gewalt, von Vertreibung und Vernichtung wurden, hatte zur Folge, dass sie selbst den Krieg auch religiös deuteten.

Welche Rolle spielte der Krieg konkret für die Muslime als größte Opfergruppe?
Obwohl Muslime vor Kriegsbeginn weniger als die Hälfte der Bevölkerung ausmachten, waren rund zwei Drittel der etwa 100 000 Kriegstoten in Bosnien-Herzegowina Muslime. Unter den zivilen Opfern des Krieges waren es sogar vier Fünftel. Diese Opferrolle stärkte das Gefühl der Zugehörigkeit zur islamischen Glaubensgemeinschaft, auch wenn viele Muslime kaum mit dem organisierten Islam in Berührung kommen und selten in die Moschee gehen.

Der jüngsten Volkszählung zufolge gibt es eine hauchdünne Mehrheit von Muslimen in Bosnien. Es könnte damit das erste mehrheitlich muslimische Land in der EU werden. Der bosnische Islam und die Bosniaken werden häufig als »moderat« bezeichnet. Gibt es so etwas wie einen bosnischen oder europäischen Islam?
Spricht man mit Muslimen in Bosnien, hört man beide Aussagen: Manche meinen, es gebe nur einen Islam und damit auch keinen arabischen, europäischen oder asiatischen Islam. Andere meinen, dass es in Bosnien eben eine spezifisch bosnische oder europäische Art gebe, den Islam zu praktizieren. Gläubige Muslime in Bosnien-Herzegowina sind Sunniten und folgen traditionell der als vergleichsweise moderat geltenden hanafitischen Rechtsschule. Als europäisch unter den Ansichten bosnischer Muslime würde ich vor allem das Bekenntnis zum säkularen Staat, zur Trennung von Politik und Religion zählen. Dass viele Muslime in Bosnien selbstverständlich Alkohol trinken und von der Gleichheit sowohl der Geschlechter als auch unterschiedlicher Religionen überzeugt sind, würde ich dagegen zu europäischen Entwicklungen zählen, weniger zu einer europäischen Art, den Islam zu praktizieren.

Auf der anderen Seite häufen sich Debatten über Salafismus und Terroristen des »Islamischen Staats« (IS). Bosnien gehört zu den europäischen Ländern mit den meisten IS-Kämpfern gemessen an der Einwohnerzahl.
Die Sicherheitsbehörden in Bosnien versuchen, islamistisches Milieus intensiv zu überwachen, und können zugleich oft wenig gegen sie tun. Bosnien-Herzegowina ist aufgrund seiner Armut und Perspektivlosigkeit ein wichtiges Ziel für islamistische Rekrutierer, aber eben auch eines unter vielen in Europa. Kosovo und Belgien etwa hatten pro Kopf ähnliche Zahlen an Rekrutierungen für den sogenannten IS.

Wie verhält sich die Islamische Gemeinschaft, die Religionsorganisation der Muslime in Bosnien, zu diesem Problem?
Die Islamische Gemeinschaft benennt das Problem von islamistischem Terror offen und arbeitet mit Sicherheitsorganen zusammen. In  dem Zusammenhang gab es etwa in den vergangenen Jahren landesweit einige Dutzend Moscheegemeinden, die die Autorität des Reisu-l-ulema, des religiösen Oberhaupts der Muslime in Bosnien, nicht mehr anerkannten und in denen salafistische Prediger tätig waren. Die Islamische Gemeinschaft in Sarajevo übte hier mit einigem Erfolg Druck aus und handelte eine teilweise Reintegration der Gemeinden aus. Was jedoch außerhalb anerkannter Moscheen geschieht, darauf hat die Islamische Gemeinschaft wenig Einfluss. Solange die Ursachen für islamistische Gewalt bestehen – extreme soziale Ungleichheit und die Wahrnehmung unter Muslimen, »der Westen« führe einen Krieg gegen den Islam –, wird die Gefahr wohl bestehen bleiben.

Im Stadtbild Sarajevos findet man viele Gebäude wie Moscheen und Einkaufszentren, die von arabischen Ländern finanziert worden sind. Geht mit dieser Unterstützung auch eine ideologische Annäherung einher?
Bosnische Muslime haben in den vergangenen Jahrzehnten deutlich an Selbstbewusstsein gewonnen. Mir scheint, dass hier die ideologische und theologische Unabhängigkeit in den vergangenen Jahren eher zugenommen hat. Die finanzielle Abhängigkeit, etwa für den Wiederaufbau der massenhaft zerstörten Moscheen oder für den Betrieb islamischer Schulen, ist aufgrund der Armut des Landes dagegen mehr denn je gegeben.

Wie sieht derzeit die Situation religiöser Minderheiten wie Protestanten oder Juden in Bosnien-Herzegowina aus?
Jakob Finci, einer der prominentesten Juden des Landes, sagte unlängst, es gebe in Bosnien keinerlei Antisemitismus. Ich bin etwas anderer Meinung, auch wenn die jüdische Gemeinschaft in Bosnien im Großen und Ganzen hohes Ansehen genießt. Gerade unter Muslimen hat in den vergangenen Jahren ein globalisierter Antisemitismus zugenommen.Was kleinere religiöse Gruppen im Land betrifft, zeugen mittlerweile Protestanten, Schiiten, Anhänger der Ahmadiyya-, der Nurculuk- oder der Hare-Krishna-Bewegung von einer wachsenden religiösen Vielfalt. Sie machen mit Atheisten und Agnostikern drei Prozent der Bevölkerung aus. Ich sehe nicht, dass den kleinen religiösen Gruppen elementare Rechte verwehrt würden.

Auch 20 Jahre nach dem Krieg gibt es immer noch enge Verbindungen zwischen Religion und Nationalismus, insbesondere in der serbisch dominierten Republika Srpska (RS).
Das Ziel der politischen Führung in der RS ist Machtsicherung. Der Präsident der RS, Milorad Dodik, nutzt hierfür mehr und mehr autoritäre Mittel und untergräbt die Autorität der gesamtstaatlichen Institutionen, die ohnehin schon schwach sind. Die Verbindung von nationaler und religiöser Rhetorik ist bei Dodik besonders eng, sie ist jedoch kein Alleinstellungsmerkmal serbischer Parteien. Dodik zielt letztlich auf eine maximal starke RS in einem Bosnien-Herzegowina ohne funktionsfähige Institutionen, in einem Staat, der nur auf dem Papier existiert.

Gibt es trotz der vielfältigen Konflikte auch eine Zusammenarbeit zwischen den Religionsgemeinschaften?
Die Religionsgemeinschaften arbeiten auf höchster Ebene eng zusammen. Hier existiert ein Interreligiöser Rat, der einige gute Projekte anstößt. Entscheidend ist jedoch die örtliche Kooperation, die sehr von der Initiative einzelner Personen abhängig ist. Dabei gibt es in Bosnien und der Herzegowina trotz des Kriegs vor zweieinhalb Jahrzehnten, trotz Flucht und Vertreibungen kaum einen Freundes- und Kollegenkreis, der sich nur aus einer Glaubensgemeinschaft zusammensetzt. Beinahe jede Familie hat Angehörige unterschiedlicher Religionen. Ein Schuldirektor aus Sarajevo sagte mir vor einigen Wochen, Europa solle aus der jüngeren bosnischen Geschichte lernen, wie aus Ausgrenzung ein Gefühl der Bedrohung entstehe, und wenn dieses Jahrzehnte bestehe, daraus irgendwann Hass. Er meinte, was in Bosnien in den neunziger Jahren geschah, sei letztlich an vielen Orten denkbar.

(Beitragsfoto: Heiner Grunert)