Ich will was anderes

Berliner Autonomenprosa. Rezension zu Lotzer, S.: Begrabt mein Herz am Heinrichplatz.

Erschienen in Neues Deutschland vom 02.01.2018

Allein das ist eine Überraschung: In einem Wiener Verlag erschien ein Buch über Berlins einst aufregendsten Stadtbezirk: Kreuzberg. »Begrabt mein Herz am Heinrichplatz« betitelte Sebastian Lotzer sein Buch, das Episoden aus der Geschichte der autonomen Bewegung im Westberlin der 1980er und 1990er Jahre enthält. Der Name des Helden ist frei erfunden, die anderen Akteure und die geschilderten Ereignisse sind es jedoch jedoch nicht.

Der Leser begleitet »Paul« durch zwei Jahrzehnte Militanz, erlebt und erleidet Siege und Niederlagen mit ihm, so etwa den Tod des Hausbesetzers Klaus-Jürgen Rattay am 22. September 1981 am Rande einer Demonstration, die Randale am 1. Mai 1989, als über 1500 Demonstranten von Polizisten eingekesselt und malträtiert wurden, sowie die Straßenschlachten rund um die Räumung der 13 besetzen Häuser in der Mainzer Straße im Bezirk Friedrichshain im November 1990.

Lotzer gelingt es, diese so nicht mehr existente militante Bewegung auch solchen Leserinnen und Lesern anschaulich zu schildern, die zu jener Zeit noch gar nicht geboren waren. Die linke Szene (West-)Berlins wird differenziert dargestellt. Punks treffen auf kurdische und türkische Jugendliche, organisierte Autonome auf Drogenabhängige, Freaks auf dogmatische K-Gruppen. Sie alle eint die Ablehnung jeglicher Autoritäten, insbesondere des staatlichen Gewaltmonopols. Es geht heiß her im Buch: stundenlange Straßenschlachten, zerbrochene Schaufensterscheiben auf dem Ku’damm, Sabotageakte, klandestine Treffen – und immer wieder ein nervenaufreibendes Katz-und-Maus-Spiel mit der Polizei.

Der Autor schildert die gewalttätigen Auseinandersetzungen und die straffe Organisierung der militanten Linken durchweg empathisch.

Nach den geifernden Debatten um die handfesten Auseinandersetzungen während des G 20-Gipfels in Hamburg im vergangenen Jahr erscheint Lotzers Buch hochaktuell. Auch in diesem ist von Vermummung, Plünderungen von Supermärkten und Abfackeln von Autos sowie dem Gegeifer der Medien die Rede. Was nicht bedeutet, dass hier Gewalt fetischisiert wird. Weder von der einen noch der anderen Seite.

Das Buch ist aber nicht nur eine Geschichte über politische und soziale Kämpfe. Lotzer fühlt sich in die Mentalität der einst Agierenden ein, versucht die subjektive Seite, also Sorgen, Hoffnungen und Enttäuschungen zu erfassen. »Begrabt mein Herz am Heinrichplatz« handelt von Selbstzweifeln und Entfremdung, von Überzeugung, Mut und Verzweiflung. Es handelt aber auch von Entmutigung durch Polizeigewalt, Verhaftung und Gefängnis. Lotzer reflektiert die Gefahr funktionaler Verhältnisse in politischen Beziehungen.

Mitunter zweifelt der fiktive Held Paul an der Sinnhaftigkeit militanter Aktionen und hadert mit der Bewegung: »Am Ende ziehen wir immer den Kürzeren und die Bullen behalten die Kontrolle. Ich will was anderes.« Allgemein aber vermisst man im Buch die Selbstbefragung und Selbstkritik der Akteure.