In einer Kommune nahe der ostsyrischen Stadt Derik lernen Internationalisten seit 2017 die Revolution von Rojava kennen. Erschienen in: Tagebuch 10/22
»Ich war einfach sehr enttäuscht von der deutschen Linken. Mir fehlte dort die Ernsthaftigkeit und Ent schlossenheit, wirklich für die Revolution kämpfen zu wollen. In der kurdischen Freiheitsbewegung ist das anders. Hier geht es auch um die Ausbildung einer revolutionären Persönlichkeit.« Bruno blickt über sein Teeglas und zieht an seiner Zigarette. »Ich habe meine Entscheidung getroffen. Ich will mein ganzes Leben für die kurdische Revolution einsetzen.« Bruno ist 27 Jahre alt und kommt aus Deutschland. Derzeit lebt er im autonomen Gebiet Rojava in Nordsyrien. Was bewegt ihn und andere Ausländerinnen, sich in den kurdischen Gebieten zu engagieren und sich vielfältigen Gefahren auszusetzen? Wer sind die Internationalisten von Rojava?
Bruno nennt seinen bürgerlichen Namen nicht. Kaum jemand tut das hier. Auch ziviles Engagement in der kurdischen Bewegung kann in Europa, insbesondere in Deutschland, zu Passentzug, Ausreiseverbot und Wohnungsdurchsuchungen führen. Zwar betont Bruno, für die zivile Selbstverwaltung in Rojava und nicht für ihren bewaffneten Arm arbeiten zu wollen, doch bei manchen Rückkehrerinnen wurden bereits sogenannte Risikoeinstufungen durch den Verfassungsschutz vorgenommen. Bruno nimmt dies in Kauf. Vorbereitet für seine Arbeit werden er und die anderen zivilen Internationalisten in der »Internationalistischen Kommune«. Dabei handelt es sich um ein Projekt, das Anfang 2017 als selbstorganisiertes Kollektiv gegründet wurde. Seither besteht die Kommune als Zusammenschluss aus Internationalistinnen, vor allem deutschen, und der kurdischen Jugendbewegung aus Rojava namens Ciwanên Şoreşger. In der Nähe der ostsyrischen Stadt Derik, zwischen Weizenfeldern, kleinen arabisch geprägten Dörfern aus Lehmziegeln und mit Blick auf das syrisch-türkische Grenzgebiet, stehen auf einem kleinen Hügelkamm die vier kleinen Häuser der »Şehid Hêlîn Qereçox Internationalist Academy«, wie die Kommune offiziell heißt. Benannt ist sie nach der Britin Anna Campbell, auch bekannt als Hêlîn Qereçox, die auf Seiten der kurdischen Volksverteidigungseinheiten (YPG) kämpfte und 2018 mit 26 Jahren im Krieg fiel. Bereits früher gab es erste Internationalismus-Schulungen. Die Gründung der Kommune ermöglichte es, diese Arbeit in einer besser organisierten Form fortzusetzen und zu vertiefen.
Bruno ist mit seinem Bedürfnis, eine »revolutionäre Persönlichkeit« auszubilden, nicht allein. In die Kommune kommen jährlich dutzende Internationalisten, um die Revolution in Rojava kennenzulernen und einen Einblick in die gesellschaftlichen Verhältnisse vor Ort zu bekommen. Manche bleiben wenige Wochen, andere mehrere Monate, wieder andere schließen sich nach dem Aufenthalt längerfristig der kurdischen Freiheitsbewegung an. Deutsche Staatsbürger überwiegen in der Kommune und prägten diese von Beginn an. Das blieb auch den Sicherheitsbehörden zu Hause nicht verborgen. Das Bundesamt für Verfassungsschutz geht von rund 290 Personen aus, die in den vergangenen Jahren zur Unterstützung der kurdischen Bewegung nach Rojava ausgereist sind. 150 von ihnen kamen zurück, mindestens 30 starben. Zwar warnt der deutsche Inlandsgeheimdienst vor »Rekrutierungsversuchen durch die Arbeiterpartei Kurdistans PKK« und rechnet die Ausgewanderten dem linksextremen Spektrum zu, doch fällt bei einem genaueren Blick ihre Unterschiedlichkeit auf: Anarchistinnen, Humanisten und Linke jeder Couleur aus der gesamten Welt befinden sich in Rojava. Unter ihnen Waldbesetzer, Studienabbrecherinnen, ehemalige Soldaten – und auch »Abenteurer«, unpolitische Menschen und Jugendliche, die auf der Suche nach Erfahrung und Sinn zu sein scheinen. Einige befinden sich auch in persönlichen Umbruchphasen oder haben Krisenmomente wie Drogen- oder Alkoholprobleme hinter sich. Sie alle teilen jedoch einen positiven Bezug auf die kurdische Bewegung, der mal stärker und mal schwächer ideologisch fundiert ist. Nicht alle waren in der Kommune, sie schlossen sich verschiedenen Strukturen an, wie etwa
den Kampfeinheiten YPG international oder YPJ international, dem anarchistischen Kollektiv Tekoşîna Anarşîst oder zivilen Organisationen im Gesundheits- oder Ökologiebereich. Schätzungen gehen von insgesamt über 1.000 Freiwilligen aus der ganzen Welt in Nordostsyrien aus. Ob sich darunter auch Österreicherinnen befinden, und wenn ja, wie viele, ist unklar. Im Innenministerium liegen keine Zahlen über »Freiwillige vor, die aus welchem Grund auch immer in eine autonome Region nach Nord- und Ostsyrien gereist sind«. Der österreichische Verfassungsschutz, die neu gegründete Direktion Staatsschutz und Nachrichtendienst (DSN), ließ entsprechende Anfragen unbeantwortet.
Vielfältiges Engagement
Rojava ist in den vergangenen Jahren zu einer Art Sehnsuchtsort für linke Aktivistinnen geworden. Die Autonome Administration in Nord- und Ostsyrien (AANES), wie das Gebiet seit 2018 offiziell heißt und das neben den kurdisch geprägten Regionen um Derik, Qamischli oder Kobanê auch die arabischen Regionen um Deir ez-Zor, Tabqa oder Raqqa umfasst, zeichnet sich durch Basisdemokratie, Frauenbefreiung und Ökologie aus. Vor zehn Jahren kam es in der Region zur Revolution. Inmitten des syrischen Bürgerkriegs zogen sich die Truppen des Machthabers Baschar al-Assad aus den vorwiegend kurdischen Gebieten in Nordund Ostsyrien zurück, und eine Koalition unter Führung der PYD, der syrischen Schwesterpartei der verbotenen türkischen Arbeiterpartei Kurdistans PKK, übernahm die Vorherrschaft. Seitdem versucht die AANES, eine kollektive Wirtschaft, Nachhaltigkeit, Geschlechtergleichheit und eine Verwaltung »von unten« durchzusetzen – und dies in einem Gebiet, das angesichts der Folgen des Bürgerkriegs im übrigen Syrien ansonsten wenig Hoffnung auf Stabilität weckt. In der Bevölkerung übernahmen Räte und Komitees die Verwaltung des öffentlichen Lebens. Zu ihren Aufgaben gehören die Verteilung von Lebensmitteln und Kraftstoff ebenso wie die Organisation von Erziehung und Bildung, Selbstverteidigung und der Aufbau einer unabhängigen Justiz. Die Selbstverwaltung basiert auf dem Konzept einer »demokratischen Nation«, das Abdullah Öcalan, der seit 1999 von der Türkei inhaftierte Vorsitzende der PKK, entwickelt hat. Das politische Ziel der Verwaltung ist kein eigener kurdischer Nationalstaat, sondern die basisdemokratische Selbstverwaltung aller Bewohnerinnen und Bewohner Nord- und Ostsyriens. Die Region ist allerdings auch mitgroßer Ungewissheit konfrontiert. Dies liegt vor allem an den zahlreichen äußeren Bedrohungen: Seit Jahren versuchen der »Islamische Staat« und andere dschihadistische Gruppen im Süden sowie die Türkei im Norden, die Selbstverwaltung militärisch zum Einsturz zu bringen. Im Osten wiederum steht die Autonome Region Kurdistan (Irak) dem Projekt in Rojava nicht gerade wohlwollend gegenüber.
Lernen von der Revolution
Als Individuum »von der Revolution zu lernen«, das scheint überhaupt ein verbreitetes Motiv dafür zu sein, um nach Rojava zu kommen. Dabei geht es nicht in erster Linie um die Kenntnis der syrischen Gesellschaft oder den Aufbau neuer politischer Strukturen, sondern um die Persönlichkeitsentwicklung, die in der gesamten kurdischen Befreiungsbewegung eine zentrale Rolle spielt. Dafür wurde bereits in den 1980er Jahren ein ganzes System an Schulungen eingeführt, das für viele Kurden die einzige Möglichkeit darstellte, in ihrer Sprache lesen und schreiben zu lernen. Als die Region noch unter der Kontrolle Assads war, war Kurdisch verboten, vielen Kurden wurde die syrische Staatsbürgerschaft verweigert, sie waren staatenlos. Die Schulungen drückten demgegenüber vor allem ein Bedürfnis nach Emanzipation und Autonomie aus. Gegenwärtig existieren sowohl theoretisch-ideologische als auch praktische Schulungen, die wenige Tage, aber auch mehrere Monate dauern können. So müssen etwa die Asayesch, die internen Sicherheitskräfte der AANES, zunächst einen achtmonatigen Kurs in deeskalativer Kommunikation, Geschichte, Kultur und feministischen Inhalten belegen, bevor sie zur Waffe greifen dürfen.
Auch die Gruppe der rund 25 Internationalistinnen, die während meines Besuchs in der Kommune leben, muss die Schulbank drücken. Für sie ist ein fünfwöchiges Programm vorgesehen. Ihr Tag beginnt um 5.30 Uhr, erst Morgenappell, dann Sport, Frühstück, Schulung, Mittagspause und erneut Unterricht. Nach dem Abendessen gibt es meist noch ein Seminar. Nach rund zehn Stunden Schulung endet der Tag um 23 Uhr mit Nachtruhe – so geht das sieben Tage die Woche. Inhaltlich reichen die Themen von »revolutionärer Ethik« und »Internationalismus« über »Frauenbefreiung« bis hin zu »Kapitalismuskritik« und der Geschichte der kurdischen Befreiungsbewegung. Dabei bleibt das inhaltliche Niveau allerdings größtenteils oberflächlich, irgendwo zwischen Wikipedia-Artikeln und ideologischen Versatzstücken aus der Philosophie Öcalans. Was sich durchzieht, ist die These der Notwendigkeit eines klar formulierten politischen Führungsanspruchs. Es brauche, das hören die Internationalisten hier immer wieder, ideologisch gut ausgebildete Kader, um die Revolution zu verteidigen und die Bevölkerung zu erziehen. Die Mehrheit auf den Schulbänken scheint dies zu akzeptieren – kritische Stimmen, zumeist von anarchistisch geprägten Teilnehmerinnen, werden oft übergangen und manchmal kleingeredet. Während man viel über die Ideologie der kurdischen Bewegung erfährt, bleiben konkrete aktuelle Probleme in Rojava weitgehend ausgespart: Von der prekären Grundversorgung mit Brot oder Strom, den durch eine veraltete Ölproduktionsinfrastruktur hervorgerufenen ökologischen Schäden oder der galoppierenden Inflation, die weite Teile der Bevölkerung in die Armut treibt, ist hier nicht die Rede
Ernsthaftigkeit und Konsequenz
Der Unterricht ist strikt und klar geregelt. Vor Beginn der Erziehung müssen alle elektronischen Geräte abgegeben werden, erlaubt sind nur Stift und Papier – nichts soll von den Inhalten ablenken. Wortmeldungen werden ausschließlich stehend vorgetragen, und sprechen darf nur, wer sich zuvor gemeldet hat. Unentschuldigtes Fehlen oder Zuspätkommen werden harsch gerügt. Hinzu kommt ein asketischer Lebensstil: Reis, Bohnen und Brot bestimmen den Speiseplan, Süßgetränke sind als »westlich« verpönt, geschlafen wird auf Schaumstoffmatratzen in Schlafsälen.
An vielen Stellen erinnert all das an Schulunterricht aus grauer Vorzeit oder an ein militärisches Ausbildungslager – in gewisser Hinsicht soll es das ja auch sein. »Disziplin ist wichtig«, sagt eine der Organisatorinnen der Kommune. »Wir wollen den Gästen zeigen, wie wir leben und wie wir Politik machen und die Revolution verteidigen. Ob die Leute das dann für sich annehmen oder nicht, ist ihre Sache.« Wenig später ergänzt sie jedoch unumwunden: »Wir als Bewegung wollen natürlich einen neuen Menschen schaffen.« Nach über einem Monat dergestalter Erziehung zeigt sich die Mehrheit der ausländischen Aktivisten mit Inhalten und Methoden der Kommune durchaus einverstanden.
Die scharfe Rhetorik, die Strenge des Alltags und die orthodoxe Ideologie in der Internationalistischen Kommune mögen aus der Perspektive Westeuropas, wo Politik häufig als Abend- oder Wochenendbeschäftigung betrieben wird, durchaus suspekt und seltsam anmuten. Für Aktivisten wie Mário oder Bruno aber scheinen sie ein Bedürfnis nach Ernsthaftigkeit und Konsequenz in politischen Handlungen zu befriedigen. Am Ende des fünfwöchigen Kurses reisen die meisten Teilnehmerinnen wieder ab, meistens ohne mit der Bevölkerung in der Region überhaupt in Berührung gekommen zu sein. Manche haben vor, sich weiter in der kurdischen Bewegung in ihren Herkunftsländern zu engagieren, andere bleiben jedoch in Rojava – und fast alle wollen wiederkommen.
Mário wird wenige Tage nach dem Ende seiner Ausbildung in die weiter im Westen liegende Stadt Kobanê aufbrechen, dorthin, wo vor zehn Jahren die »Rojava-Revolution« ihren Ausgang nahm. »Ich habe den Entschluss gefasst, dass ich so lange wie möglich bleiben möchte«, sagt er. Vorgesehen ist, dass er sich in der Stadt in der Jugendarbeit engagiert.
In der Zwischenzeit ist auch Brunos Tee ausgetrunken, mehrere Zigaretten sind geraucht. Er weiß noch nicht, wie es für ihn weitergeht. Sicher ist er sich jedoch bei einer Sache: »Hier kann man wirklich an einer Revolution teilnehmen und für seine Ideale ganz praktisch einstehen.« Man ist geneigt, ihm zu glauben.
Christopher Wimmer lebt und arbeitet als Sozialwissenschafter und freier Autor in Berlin. Die letzten Monate verbrachte er in Nordostsyrien. Zuletzt erschienen von ihm Die Kommunen vor der Kommune 1870/71 (Assoziation A, 2021) und Lumpenproletariat (Schmetterling Verlag, 2021)