Rosheen Mahmoud, Co-Vorsitzende des Volksrats von Euphrat, im Gespräch über die drohenden türkischen Angriffe auf Kobanê. Erschienen in: Jungle World vom 09.01.2025
Wie ist die Lage in Kobanê?
Die Menschen in Kobanê sind in Alarmbereitschaft, weil sie nicht wissen, was sie erwartet. Nach dem Sturz von Bashar al-Assad rückten die von der Türkei unterstützten islamistischen Söldner der Syrian National Army (SNA) in Nordsyrien vor und haben die Städte Tall Rifaat und Manbij eingenommen, die zur »Demokratischen Selbstverwaltung« gehören. Die SNA und türkische Truppen greifen die gesamte Selbstverwaltung weiterhin nahezu täglich an. Insbesondere Kobanê sowie die umliegenden Dörfer sind davon betroffen. Die Stadt ist noch einigermaßen stabil, aber die gesamte Region ist wahllosen Angriffen durch Artillerie und Drohnen ausgesetzt, die vor allem die Infrastruktur treffen. Zuletzt wurden nahe Kobanê Hochspannungsleitungen und ein großes Getreidelager zerstört. Die Türkei setzt alles daran, Kobanê zu erobern, zu besetzen und die Bevölkerung zu vertreiben.
Wo verläuft derzeit die Front?
Die SNA steht rund 30 Kilometer vor Kobanê. Die Front stellt derzeit der Fluss Euphrat westlich der Stadt dar. An den beiden Übergängen, dem Tishrin-Staudamm und der Brücke Qara Qozak, kommt es zu heftigen Kämpfen. Aber unsere Truppen, die Syrian Democratic Forces (SDF), halten beide Punkte und haben in den vergangenen Tagen sogar immer wieder kleinere Gegenoffensiven unternommen. Viele SDF-Kämpfer und Kämpferinnen sind bereits gefallen. Doch wir werden weiter unsere Gebiete gegen die Islamisten verteidigen.
»Solange es keine demokratische syrische Verfassung gibt, müssen wir Kurdinnen und Kurden uns selbst verteidigen, und solange sollten die SDF ihre Waffen nicht niederlegen.«
Was bedeutet der Krieg für die Menschen in Kobanê? Wie gehen sie mit der Lage um?
Seit Anfang Dezember liegt die Stadt in völliger Dunkelheit. Die bisherige Hauptstromquelle der Region, der Tishrin-Staudamm, wurde aufgrund der Kämpfe beschädigt und kann keinen Strom mehr produzieren. Kochen, heizen – all dies muss in Kobanê ohne Elektrizität gemacht werden.
Der Stromausfall hat Auswirkungen auf die Trinkwasserversorgung in der Region. Die Wasserpumpen am Euphrat funktionieren nicht mehr, so dass die Menschen in Kobanê mit behelfsmäßigen und selbstgebauten Brunnen auf das Grundwasser zurückgreifen müssen. Die Lebensmittelversorgung ist das dritte Problem in Kobanê. Im Umland der Stadt gibt es ein wenig Landwirtschaft, jedoch keine Industrie. Wir waren immer auf den Import von Waren angewiesen. Bislang kamen sie vor allem aus Manbij, das nun jedoch von der SNA besetzt ist. Der Handel ist hier vollkommen zusammengebrochen. Nun müssen wir auf Waren aus Raqqa oder anderen Gebieten der Selbstverwaltung zurückgreifen. Doch die sind weiter weg und viel teurer. In Kobanê müssen wir nun ein Vielfaches der bisherigen Preise bezahlen. Es ist ein Zermürbungskrieg, dem die Menschen in Kobanê und in der gesamten Selbstverwaltung ausgesetzt sind. Bislang gibt es aber keinen großen Massenexodus aus der Stadt.
Die meisten Menschen bleiben also? Werden sie sich gegen einen drohenden Angriff verteidigen?
Von unseren Streitkräften kam kürzlich der Aufruf an die gesamte Bevölkerung, zu den Waffen zu greifen und sich, ihre Familien, Kommunen und Städte zu verteidigen. Zahlreiche Menschen aus der Stadt sind dem Aufruf gefolgt. Ich nehme schon wahr, dass es eine große Unterstützung der Bevölkerung für die SDF gibt und viele Menschen entschlossen sind, ihre Stadt zu verteidigen, wenn es zum Angriff kommt.
Kürzlich hat der Oberkommandierende der SDF, Mazloum Abdi, mit bürgerlichem Namen Ferhat Abdi Shaheen, vorgeschlagen, in Kobanê eine »entmilitarisierte Zone« einzurichten, die von den USA kontrolliert wird. Was halten Sie von diesem Vorschlag?
Es ist eine Option. Aus meiner Sicht wäre eine Entwaffnung zum jetzigen Zeitpunkt jedoch extrem gefährlich, da die neuen Machthaber in Damaskus noch nicht verbindlich zugesagt haben, die Rechte der Kurdinnen und Kurden sowie anderer ethnischer und religiöser Minderheiten in Syrien zu schützen. Solange es keine demokratische syrische Verfassung gibt, müssen wir Kurdinnen und Kurden uns selbst verteidigen, und solange sollten die SDF ihre Waffen nicht niederlegen.
In den vergangen Tagen wurde von den USA ein Waffenstillstand zwischen der SNA und den SDF ausgehandelt. Wird der eingehalten?
Der Waffenstillstand wurde von amerikanischer Seite verkündet, aber der türkische Staat und seine Söldner haben sich trotzdem nicht daran gehalten und ihre Angriffe fortgesetzt. Unser Kanton wird weiter beschossen und die Waffenstillstandsvereinbarungen werden immer wieder verletzt.
Kürzlich sind US-Truppen in Kobanê eingerückt. Die Stars and Stripes wehen nun über dem Rathaus der Stadt. Wie beurteilen Sie diese Entwicklung?
Zunächst möchte ich betonen, dass es keine feste oder langfristige Stationierung von US-Truppen in Kobanê gibt. Was aber stimmt, ist, dass es in den vergangenen Tagen zu Patrouillen der US-Streitkräfte in der Stadt und nahe der Front am Euphrat kam. Für die Menschen in Kobanê ist die US-Präsenz durchaus eine Erleichterung, denn sie bedeutet zunächst einmal, dass der Krieg nicht in die Stadt kommt. Die Türkei wird Kobanê nicht direkt bombardieren oder angreifen, solange internationale Truppen hier sind. Die Anwesenheit der US-Streitkräfte entspricht meines Erachtens in erster Linie der Forderung der SDF, sich ein Bild von der Lage an Ort und Stelle zu machen und über die Bedingungen des Kriegs aufzuklären.
»Vor zehn Jahren haben wir in Kobanê mit Hilfe der internationalen Anti-IS-Koalition die Jihadisten besiegt. Die Stadt wurde weltweit bekannt. Ich bin zuversichtlich, dass wir uns diesmal ebenfalls gegen Angriffe verteidigen können.«
Sie haben bereits erwähnt, dass die SNA große Gebiete der Selbstverwaltung erobert hat. Welche Folgen hat das für die Betroffenen und für Kobanê?
Dieser Angriff hat rund 200.000 Menschen in eine lebensbedrohliche Lage gebracht. Allein aus der Region Tall Rifaat wurden über 120.000 Menschen vertrieben. Sie lebten dort seit 2018 in informellen Siedlungen, vertrieben aus dem nahen kurdischen Kanton Afrîn (dieser wurde 2018 von türkischen Streitkräften und der SNA eingenommen und steht seitdem unter türkischer Kontrolle; Anm. d. Red.). Nun mussten sie erneut fliehen. Wir als Selbstverwaltung haben vor allem in den Städten Thawrah und Raqqa große Lager aufgebaut, um die Menschen zu versorgen, doch es fehlt an allem. Mehrere Kinder sind bereits an Unterkühlung gestorben. Die hygienischen Bedingungen sind schlecht, Krankheiten breiten sich aus. Doch nach Kobanê sind ebenfalls zahlreiche Menschen geflohen. Wir tun trotz unserer eingeschränkten Möglichkeiten unser Bestes, den Geflüchteten zu helfen. Für die Menschen, die in den besetzten Gebieten leben, ist es sehr schwer. Verbrechen der SNA und der türkischen Armee sind durch zahlreiche Videos und Berichte dokumentiert. Sie plündern und brandschatzen und töten alle, die sich ihren brutalen Handlungen widersetzen.
Welche internationale Unterstützung erwarten Sie in dieser Situation?
Vor zehn Jahren haben wir in Kobanê mit Hilfe der internationalen Anti-IS-Koalition die Jihadisten besiegt. Die Stadt wurde weltweit bekannt. Ich bin zuversichtlich, dass wir uns diesmal ebenfalls gegen Angriffe verteidigen können. Dafür rufe ich alle Länder der Koalition auf, Kobanê zu helfen, wie sie es während des Kriegs gegen den IS getan haben. Die Staatengemeinschaft sollte Kobanê im Kampf gegen die Türkei und ihre Söldner unterstützen.
Die Türkei ist jedoch Nato-Mitglied. Warum sollten andere Nato-Staaten gegen die Türkei agieren?
Aus Eigeninteresse. Wenn der Krieg in Nordsyrien weitergeht, wird er sich auf andere Regionen ausbreiten und könnte zu einer Gefahr für die ganze Welt werden. Der »Islamische Staat« könnte zurückkehren und sich ausbreiten, was eine Bedrohung für sehr viele Länder darstellt.
Angenommen, wir sprechen in einem Jahr wieder miteinander. Was wünschen Sie sich für Kobanê und Syrien bis dahin?
Die SDF bemühen sich mit allen Mitteln um Verhandlungen, um weiteres Blutvergießen zu verhindern, aber die Türkei scheint entschlossen, den Krieg fortzuführen. Wir wollen keine weiteren Opfer. Wir sind gegen Krieg und Gewalt. Letztlich fordern wir als Einwohnerinnen und Einwohner von Kobanê Frieden und Stabilität in unserer Region. Dafür ist es nötig, die Rechte von Kurdinnen und Kurden sowie anderen Minderheiten im Rahmen einer neuen Verfassung zu sichern. Wir wollen ein dezentralisiertes, demokratisches Syrien, in dem alle ihre Sprache sprechen, ihre Kultur leben können und in dem alle Menschen geschützt sind. Ob dies in einem Jahr möglich ist, weiß ich nicht, aber wir werden weiter dafür kämpfen.