Für Rojava steht viel auf dem Spiel

Erschienen in: ND.Der Tag vom 4.3.2025.

Auch im Norden Syriens wurde mit Spannung verfolgt, was der in der Türkei inhaftierte PKK-Vorsitzende Abdullah Öcalan zu sagen hatte. In den Städten der Region wurden große Leinwände aufgestellt, um die mit Spannung erwartete Erklärung Öcalans live zu verfolgen. Revolutionäres Public Viewing sozusagen. Revolutionär war dann auch der Inhalt von Öcalans Ankündigung. Er rief dazu auf, die Waffen niederzulegen und die PKK aufzulösen.

Auf den ersten Blick weckt dieser Aufruf die Hoffnung, dass der gewaltsame Konflikt der Türkei gegen die dortige kurdische Freiheitsbewegung beendet werden könnte, dem rund 40.000 Menschen zum Opfer gefallen sind. Auf den zweiten Blick wird jedoch ein anderes Problem sichtbar, das sich jenseits der türkischen Grenze abspielt.

Dort, im Norden Syriens, existiert seit zwölf Jahren eine Selbstverwaltung, die im Westen meist unter dem kurdischen Namen Rojava bekannt ist. Sie basiert auf Öcalans Ideen von Basisdemokratie und Geschlechtergerechtigkeit. Rojava umfasst heute rund ein Drittel des syrischen Staatsgebiets. In den Gebieten leben Kurden, Araber und andere ethnische und religiöse Minderheiten in einem Modell zusammen, das ursprünglich aus kurdischen Autonomiebestrebungen entstand und sich zu einem inklusiven, multiethnischen Gesellschaftsprojekt entwickelt hat. Dennoch behält die kurdische Bewegung innerhalb der Selbstverwaltung ihren dominanten politischen Einfluss – was zugleich Fragen nach den Folgen von Öcalans Appell aufwirft.

r richtete sich an die PKK, sprach aber von »allen bewaffneten Gruppen«. Ob damit auch die kurdischen Milizen in Syrien gemeint sind, bleibt offen. Dort gründeten kurdische Kämpfer*innen 2012 die Volksverteidigungseinheiten YPG und die Frauenverteidigungseinheiten YPJ. Zusammen mit arabischen und christlichen Milizen bilden sie die Syrischen Demokratischen Kräfte (SDF), die als militärischer Arm der Selbstverwaltung agieren. Die SDF haben enge Verbindungen zur PKK, agieren aber unabhängig. Sie waren es, die gemeinsam mit einer internationalen Koalition den »Islamischen Staat« bekämpften. Für die türkische Staatsführung sind PKK und SDF jedoch identisch. Regelmäßig greift die Türkei die Selbstverwaltungsgebiete völkerrechtswidrig an.

Mazlum Abdî, der Oberkommandierende der SDF, machte nach Öcalans Aufruf deutlich, dass dieser ausschließlich an die PKK gerichtet sei und die SDF nicht betreffe. Er begrüßte zwar den Anstoß zu einem Friedensprozess, betonte aber gleichzeitig erneut die Unabhängigkeit der SDF und erklärte, dass eine Entwaffnung für die SDF nicht in Frage komme.

Für die Kurd*innen steht zu viel auf dem Spiel: Die Selbstbestimmung wird aktuell durch die neuen Machthaber in Damaskus massiv herausgefordert. Eine Entwaffnung würde Rojava wehrlos machen. Unmittelbar nach Öcalans Erklärung rief die PKK-Guerilla einen einseitigen Waffenstillstand aus. Gleichzeitig setzt die Türkei ihre Angriffe auf Nordsyrien fort. Die Selbstverwaltung dort steht vor der Aufgabe, all das zu schützen, was sie in der letzten Dekade aufgebaut hat – mit dem Wunsch nach Frieden, aber mit der Waffe in der Hand.