Eric Vuillard erzählt die Geschichte des 14. Juli 1789 von unten
Erschienen in: Neues Deutschland vom 15.08.2019
Nihil humani a me alienum puto (Nichts Menschliches ist mir fremd). Diese Maxime schrieb Karl Marx 1865 seiner Tochter Jenny ins Poesiealbum. Man kann davon ausgehen, dass ihm das jüngst auf Deutsch erschienene Buch »14. Juli« des französischen Schriftstellers Éric Vuillard gefallen hätte. Dort wird die Geburtsstunde der Französischen Revolution als bildreiches Panorama vieler Miniaturen erzählt. Man begegnet Arbeiter*innen, Tagelöhnern, Hausfrauen und Handwerkern. Man taucht ein in ihr Leben, vor allem in ihr Leid am Ende des Ancien Régime.
So begleitet man die Unterdrückten und Entrechteten, wie sie in Kneipen diskutieren gegen die Ungerechtigkeit, erst zaghaft und unsicher, dann nahezu triebhaft, und wie sie dann am 14. Juli 1789 die Bastille stürmen, das Symbol der verhassten Monarchie. Man erfährt Banales, Alltägliches und Zufälliges, aus dem sich weltgeschichtliche Ereignisse wie die Französische Revolution speisen.
Vuillard, dessen Sprachgewalt wunderbar von Nicola Denis ins Deutsche übertragen wurde, gibt jenen Stimme und Namen, die man sonst in Geschichtsbüchern vermisst. Vuillards »14. Juli« erinnert hierbei an das Buch »Beziehungsweise Revolution« von Bini Adamczak von 2017. Ihr war es gelungen, die Russische Revolution nicht als Heldenepos zu erzählen und den »Sturm auf das Winterpalais« eben nicht überhöht oder verklärend zu beschreiben – sondern als eine Kette von Missverständnissen, an deren Ende die Arbeiter*innen zwar das Gebäude gestürmt hatten, aber darin nichts fanden außer einen überdimensionalen Weinkeller und sich drei Tage lang betranken. Ebenso nimmt Vuillard die Französische Revolution exakt und kenntnisreich in den Blick. Und dieser ist einer »von unten«.
Vuillard räumt dem »Pöbel« den ihm gebührenden Platz in der Geschichte ein, der ihm von den Historikern häufig verwehrt wurde und wird. Er lässt die Beteiligten von ihren Erfahrungen, Hoffnungen und Enttäuschungen erzählen. Die Revolution, die ihren Anfang bereits im April 1789 nahm, als ein Pariser Tapetenfabrikant namens Réveillon den Lohn seiner Arbeiter*innen senken wollte – 15 statt 20 Sous am Tag -, ist vielgesichtig wie eine Hydra.
Dabei verliert sich Vuillard jedoch nicht im Gewusel des spontanen Aufbäumens der Pariser, gleichwohl er mehreren Spuren folgt. Die Menschen schtreifen in der Nacht zum 14. Juli in Straßen und Gassen umher, finden keinen Schlaf. Sie sind aufgedreht und wütend. Hier wird ein Fenster eingeschlagen, dort nach Waffen gesucht oder auch schlicht in einen Türeingang gepinkelt. Es rumort überall.
Bei seiner Darstellung gelingt Vuillard die Verknüpfung von Literatur und Geschichtsunterricht auf prächtige Art. Seine Recherchen in Akten, zeitgenössischen Zeitungen und Biografien vertragen sich mit der temporeichen Erzählung, mit dem Auf- und Abtauchen zahlreicher Protagonist*innen, der Weber, Lampenanzünder, Arbeiter*innen, die im herrlich warmen Sommer 1789 so sehr vom Hunger und von der Not geplagt sind, dass sie sich aufmachen, Willkür und Despotie abzuschütteln.
Waffenarsenale werden gestürmt, man wappnet sich gar mit Theaterrequisiten. Aus falschen Speeren werden Schlagstöcke. Die Kirchenglocken in Paris schlagen Alarm, doch zu spät: Die Menge hat sich bereits vor den Toren der Bastille versammelt – und sie wird Europa für immer verändern. »Der Wille des Volkes hat soeben die Bühne der Geschichte betreten«, heißt es bei Vuillard.
Sein Buch zeugt von großer menschlicher Sehnsucht nach Freiheit und Gleichheit und wie sie sich erkämpfen lassen. Es zeugt von einer Revolution, deren Vermächtnis ebenso wie die am 26. August 1789 verkündete Erklärung der Menschen- und Bürgerrechte auch nach 230 Jahren noch nicht eingelöst ist. Sie zeigt, was möglich ist, wenn die Namenlosen beginnen, im eigenen Namen Geschichte zu machen.
Éric Vuillard: 14. Juli. Aus dem Französischen von Nicola Denis. Matthes & Seitz, 136 S., geb., 18 €.