Der kollektive Intellektuelle

Franz Schultheis erinnert an den französischen Soziologen Pierre Bourdieu. Erschienen in: Neues Deutschland vom 01.08.2019.

Es sind nunmehr bereits 40 Jahre verstrichen, da das bahnbrechende Werk »Die feinen Unterschiede« des französischen Soziologen Pierre Bourdieu erschien. Darin befasste sich der 2002 in Paris verstorbene Wissenschaftler mit einem scheinbar banalen Thema: »Geschmack«. Wie ein Mensch spricht, was er isst oder welche Kleidung er trägt, welche Zeitung gelesen oder welchem Hobby nachgegangen wird – all dies hänge zusammen und sei klassenspezifisch geprägt. Es sei möglich, Abgrenzungen in der Gesellschaft – Bourdieu spricht von »Distinktion« – nicht nur anhand der Größe des Geldbeutels festzumachen, sondern eben auch an jenen kleinen, feinen Unterschieden wie zwischen der Kenntnis des Jahrgangs eines guten Rotweins oder der Kauf eines Billigfusels beim Discounter.

Der deutsche Soziologe Franz Schultheis, der an der Zeppelin-Universität Friedrichshafen lehrt, stellt Bourdieu als »Chef einer Denkfabrik« vor. Dessen Idealbild sei das eines »internationalen kollektiven Intellektuellen« gewesen. Soziologische Forschung mit »Feldherrenblick« – also von oben herab und von außen – sei ihm ein Graus gewesen.

Forschung im Kollektiv, wie von Bourdieu und seinen Kollegen unternommen, steht im Zentrum des schmalen Bandes. Es geht konkret um das Centre Européenne de Sociologie in Paris in den Jahren von 1987 bis zu Bourdieus Tod. Deutlich wird, wie dieser und seine Mitstreiter*innen, Texte diskutierten und Interviews führten. In kollektiver Anstrengung entstanden dann so bedeutsame Werke wie »Das Elend der Welt«, in dem Bourdieu marginalisierte Menschen aus den Vororten von Paris zu Wort kommen lässt. Die Befragten berichten von ihren privaten oder beruflichen Erfahrungen, Hoffnungen und Enttäuschungen.

Doch seine Zeitschriftengründungen wie auch Publikationsreihen, so die 1975 gegründete »Actes de la recherche en sciences sociales« und »Raison d’agir« von 1996, hatten mit finanziellen Problemen zu kämpfen. Der Intellektuelle Bourdieu musste sich mit Alltagsproblemen im Wissenschaftsbetrieb herumschlagen. Über bürokratische Formalitäten blieb oft wenig Zeit für Kollektivität. Schultheis’ Buch ist gespickt mit Szenen des Scheiterns. Die unerfreuliche Diskrepanz zwischen aufwendiger kollektiver und kritischer Forschung einerseits und der Notwendigkeit von Drittmittelwerbung, Publikationsdruck und Vermarktung anderseits ist in der heutigen Wissenschaftslandschaft allerdings noch stärker ausgeprägt und belastender als zu Bordieus Zeit.

Schultheis erweist sich als dessen treuer Schüler, bietet etliche aufschlussreiche und auch amüsante Anekdoten, viele persönliche und einige triviale Details. Der Autor erinnert daran, wie sich Bourdieu nach einem Vortrag durch eine Hintertür davonstahl, um mit Student*innen anzustoßen, während Honoratioren vergeblich auf den Gelehrten warteten. Nächtens habe er bis drei Uhr morgens an seinem Schreibtisch gesessen, erfährt man über Bordieu. Der Erkenntnisgewinn solcher Aussagen hält sich zwar in Grenzen, lockert das Erinnerungsbüchlein freilich auf. Man hätte sich aber beispielsweise lieber Aufklärung darüber gewünscht, wie es sein konnte, dass trotz Kollegialität Bourdieu den sich um ihn scharenden jüngeren Wissenschaftler*innen unkollegiale Schwierigkeiten bereitete, wenn diese ihrer eigenen Wege gehen wollten. Hier hätte sich eine Diskussion jener symbolischen Gewalt angeboten, über die Bourdieu immer wieder schrieb. Und man wäre damit bei jener »Soziologie im Handgemenge«, die Bourdieu selbst mit den »Feinen Unterschieden« demonstriert hatte.

Franz Schultheis: Unternehmen Bourdieu. Ein Erfahrungsbericht. Transcript. 106 S., br., 14,99 €.