Rezension zu: Cornelia Hermanns: China und die Kulturrevolution. Der letzte lange Marsch
Erschienen in ASIEN, The German Journal on Contemporary Asia, 146
Um es vorweg zu sagen: Es steht nichts Falsches in Cornelia Hermanns Buch „China und die Kulturrevolution. Der letzte lange Marsch“. Pünktlich zu deren 50. Jahrestag ist das Buch der promovierten Historikerin und freien Autorin nun im kleinen Drachenhaus Verlag erschienen. Es reiht sich damit in eine Vielzahl von Texten und Veranstaltungen ein, die die historisch einzigartigen Vorgänge in China 1966 zum Thema haben: Der Vorsitzende der Kommunistischen Partei Chinas, Mao Zedong, rief zum Angriff jugendlicher „Roter Garden“ gegen den angeblich vom Kommunismus abgefallenen Staat auf. Am 16. Mai 1966 begann die Revolution mit einem zunächst internen Dokument der „Gruppe für die Kulturrevolution des Zentralkomitees“. Innere Feinde hätten Zeitungen, Rundfunk, Bücher, Lehrmaterial, Literatur, Filme, Kunst und Musik – kurz die Kultur – mit reaktionärem und kapitalistischem Gedankengut verseucht und müssten ausgelöscht werden. Gegen die Erstarrung und Korruption des Parteiapparats setzte Mao die permanente Revolution und sprach dabei insbesondere die Jugend an. Was folgte, waren Entlassungen, häufig aber auch Demütigungen, Folter und Tötungen. Die Gewalt wurde immer brutaler und willkürlicher.
Der Aufstand im Sommer 1966 forderte wahrscheinlich 10.000 Tote, spätere Kämpfe zwischen den verschiedenen Fraktionen der RotgardistInnen weitere 10.000. Am Ende der Revolution sollten rund anderthalb Millionen Menschen tot sein – die meisten davon ermordet oder in den Suizid getrieben.
Hermanns Buch zeichnet sich bei der Beschreibung dessen nicht durch fundamental neue Erkenntnisse, neue Quellen oder eine eigene (politische) Bewertung aus, schafft es aber, den gesellschaftlichen Kontext verständlich und durchaus spannend nachzuzeichnen, und ermöglicht somit einer breiten Gruppe Zugang zur Thematik. Hilfreich hierfür ist auch die Form des Buch: Zahlreiche Abbildungen und kurze Kapitel ermöglichen einen guten Lesefluss und heben sich damit deutlich von wissenschaftlichen Publikationen ab. Dass auf geschlechtergerechte Sprache verzichtet wurde, ist eine unnötige Leichtfertigkeit.
Besonders hervorzuheben ist jedoch die breite historische Einbettung. Hermanns lässt ihre Erzählung bereits im Jahr 1911 beginnen, dem Jahr des Sturzes der letzten chinesischen Kaiserdynastie. In der Erzählung bis zur Gründung der Volksrepublik 1949 durch Mao Zedong sind zwei Aspekte von besonderer Bedeutung. Hermanns schafft es, das Gefühl der Demütigung durch ausländische Mächte in China deutlich spürbar zu machen, das sich tief ins ‚kollektive Gedächtnis‘ des Landes eingeschrieben hat. Der zweite Aspekt ist Maos Umdeutung des Marxismus durch die Verbindung mit dem Voluntarismus, also der Vorstellung, dass die Revolution in erster Linie vom Willen der revolutionären ArbeiterInnen und BäuerInnen abhängig sei. Ohne diese Grundlage wären die unglaublichen Anstrengungen sowohl des Langen Marsches als auch Großen Sprungs nach vorn kaum nachvollziehbar.
Das Buch ist bei alledem durchaus spanend und kurzweilig geschrieben. Auch die ersten Jahre der Volksrepublik werden facettenreich und illustriert beschrieben. Dies geht dabei leider zu oft auf Kosten der inhaltlichen und analytischen Tiefe. Häufig bleibt Hermanns auf der deskriptiven Ebene stehen. Sie zeigt zwar kenntnisreich und umfassend die Geschehnisse auf, kann aber selten zu deren Erklärung beitragen. Historische Prozesse wie die Zeit vom Langen Marsch zur Herrschaft der Kommunistischen Partei werden dabei als widerspruchsfrei und fast sogar zwangsläufig beschrieben. Ein Lieblingsbegriff Maos hätte dem Buch gutgetan: Dialektik.
Mit einem solchen Geschichtsverständnis wäre es ihr dann auch leichter gefallen, die Wendungen, die durch die Kulturrevolution eingesetzt haben, zu fassen. Zwar erklärt sie überzeugend den Fokus der Revolution auf die Jugend, auch der Wandel von der Politik auf die Kultur wird anschaulich beschrieben. Warum jedoch gewissermaßen von heute auf morgen die Revolution gegen die Partei und deren Spitze und nicht mit ihr und durch sie gemacht wurde, wird nicht abschließend beantwortet: Hermanns beschreibt zwar, wie Mao es durch seine Hinwendung auf die „Volksmassen“ schafft, Widersacher in der Partei auszuschalten und die Garden für seine Zwecke zu benutzen, sie kann aber nicht erklären, wo oder wie die Kulturrevolution über bloße innerparteiliche Machtkämpfe hinausgeht.
Hermanns verzichtet in ihrem Buch dabei weitgehend auf eine eigene Interpretation der Geschehnisse. Eigene Thesen oder Positionierungen finden sich nicht. Spannend wäre eine tiefere Auseinandersetzung mit der deutschen bzw. westeuropäischen Linken und ihrem Verhältnis zu Mao und der Kulturrevolution gewesen. Hermanns beschreibt dies zwar in Einleitung und Schluss, die interessante Frage, warum so viele Linke – vom Philosophen Michel Foucault über KünstlerInnen wie Jörg Immendorf und Fußballer wie Paul Breitner bis hin zu den Militanten der Stadtguerilla – sich damals auf Mao bezogen haben, bleibt unbeantwortet. Ohne die maoistischen K-Gruppen gäbe es heute sicherlich auch keine grüne Partei– auch hierzu nichts.
Die rein historische Beschäftigung mit Mao und der Kulturrevolution ist ehrenhaft und gerade auch in der Breite und der Verständlichkeit, die Hermanns an den Tag legt, lobenswert. Herausragend wird es aber dann, wenn dies für die heutige Zeit anschlussfähig und nachvollziehbar gemacht wird. Insofern ist Cornelia Hermanns kein herausragendes Buch gelungen. Manchmal reicht es leider nicht, einfach nur nichts Falsches zu schreiben.