Erschienen in: Tagebuch 6/25
Die Stadt Kobanê im Norden Syriens wurde Ende 2014 zu einem weltweiten Symbol im Kampf gegen den »Islamischen Staat«. Die Dschihadisten hatten bei ihrem Vormarsch die Stadt zu erobern versucht. Doch den kurdischen Volks- und Frauenverteidigungseinheiten YPG und YPJ gelang es – mit Unterstützung der US-Luftwaffe – die vollkommen zerstörte Stadt 2015 aus der IS-Übermacht zu befreien. Zurück blieb ein Trümmerhaufen. Einerseits. Andererseits wurde Kobanê zu einem gefeierten Beispiel für den kurdischen Widerstand. Mehr noch: Immer wieder ist von der Stadt die Rede, wenn es allgemein um »Rojava« geht – die autonome Selbstverwaltung, die in Nord- und Ostsyrien besteht. In den autonomen Gebieten verwalten sich die Menschen auf der Grundlage von Basisdemokratie, Geschlechtergerechtigkeit und multiethnischem Zusammenleben selbst. Die Grundlage hierfür schuf die »Rojava-Revolution«, die im Juli 2012 ebenfalls in Kobanê begann. Grund genug für einen genaueren Blick auf die rund 35.000 Menschen zählende Stadt an der türkischen Grenze.
Einen solchen genauen Blick hat – im Wortsinn – Thomas Schmidinger unternommen. Sein Bildband Kobanê. Eine Stadt im Widerstand bietet einen eindrucksvollen dokumentarischen Einblick in die Stadt. Der Politikwissenschafter bereist Kobanê seit 2015 immer wieder und versammelt in seinem Band 81 Schwarz-Weiß-Fotografien, die zwischen 2015 und 2024 entstanden sind. Diese Bilder geben den Menschen vor Ort ein Gesicht und zeichnen ein vielschichtiges Porträt jenseits von Heroisierung und Propaganda.
Bereits die erste Reise des Autors 2015 fand inmitten der Trümmer statt, die nach der Befreiung der Stadt zurückblieben. Die Aufnahmen zeigen nicht nur zerstörte Infrastruktur und militärisches Gerät als ständige Mahnung an die Verwüstung, sondern auch Alltag: Kinder spielen zwischen Ruinen, Händler richten ihre Stände neu aus, die Universität wird neu eröffnet, ein Verlagssitz gegründet. Genau diese Spannweite zwischen Trümmerlandschaft und lebendiger Zivilgesellschaft macht den Reiz des Bandes aus.
Die essayistischen Begleittexte sind kurz, prägnant und informativ – sie liefern den inhaltlichen Kontext. Dabei dekonstruiert Schmidinger etwa den gängigen Mythos zur »Rojava-Revolution« 2012: Für ihn war diese weniger eine soziale Revolution als ein taktischer Rückzug der Truppen des syrischen Diktators Baschar al-Assad, der den Menschen vor Ort Raum für Selbstorganisation verschaffte. Die Texte zeichnen zudem nach, wie sich das Selbstverständnis der Bevölkerung entwickelte – von der akuten Verteidigung gegen den IS hin zur alltäglichen Gestaltung einer autonomen Verwaltung. Zudem machen sie die aktuellen Bedrohungen sichtbar: Seit dem Sturz Assads bedrohen Angriffe der Türkei und verbündeter dschihadistischer Gruppen die Stadt akut. Bereits seit 2019 ist Kobanê dem ständigen türkischen Drohnenterror ausgesetzt. Die Türkei fürchtet die basisdemokratischen Strukturen in Rojava.
Indem Schmidinger auch persönliche Reiseerlebnisse und Begegnungen schildert, gelingt es ihm, den Blick sowohl weg von westlicher Kriegsberichterstattung als auch von revolutionärer Verklärung hin zur Selbstrepräsentation der Stadtbevölkerung zu lenken. Er verbindet analytische Texte mit eindringlichen Bildern und macht so das Leben und den ungebrochenen und dauerhaft gelebten Widerstandswillen der Menschen in Kobanê spürbar – mit all seinen Hoffnungen, Enttäuschungen und Brüchen.
Rezension zu: Thomas Schmidinger: Kobanê. Eine Stadt im Widerstand Bahoe , 2025, 120 Seiten EUR 26,00 (AT), EUR 26,00 (DE), CHF 35,90 (CH)