»Soziale Klasse ist ein Grund für geringe Literalität«

Viele Menschen stellt das Lesen und Schreiben vor Herausforderungen. Anke Grotlüschen erklärt die Auswirkungen und Ursachen geringer Literalität. Erschienen in: ND. Die Woche vom 07.09.2024

Am 8. September ist Weltalphabetisierungstag. Dieser erinnert daran, dass mehr als sechs Millionen erwachsene Menschen in Deutschland nicht richtig lesen und schreiben können. Woher kommen diese Zahlen und wer sind diese Menschen?

Die Befunde stammen aus den bevölkerungsrepräsentativen Level-One-Studien, kurz LEO-Studien, die wir 2010 und 2018 an der Universität Hamburg durchgeführt haben. »Level One« steht für die erste von fünf Stufen, auf denen Lese- und Schreibkompetenz ansteigend geordnet wird. Menschen mit Schwierigkeiten beim Lesen und Schreiben gibt es in allen Industrienationen, das wurde nur lange übersehen. Die Schulpflicht führt nicht in allen Fällen dazu, dass man später flüssig liest und schreibt. Armut, Mehrsprachigkeit und Diskriminierung kommen oft hinzu und hindern daran, sich eine solide Grundbildung aufzubauen.

Dazu forschen sie in Hamburg und haben den Begriff der »geringen Literalität« mit geprägt. Was verstehen sie darunter?

Innerhalb unseres Teams der LEO-Studie meinen wir damit, dass jemand zwar Buchstaben, Wörter und sehr einfache Sätze lesen und schreiben kann, aber an Texten scheitert. Vermutlich wäre es sogar möglich, kürzere Texte langsam zu erlesen, aber es ist so mühsam, dass es vermieden wird. Das kann man vielleicht damit vergleichen, eine furchtbar schlechte Handschrift entziffern zu müssen: Wenn es nicht wichtig ist, lässt man es sein.

Wie muss man sich den Alltag von Menschen mit geringer Literarität vorstellen?

Kritische, eigene Haltungen entwickelt man im Grunde am Text. Man liest, schaut irgendwo nach, ob das Gelesene stimmen kann, guckt noch einmal in die Quellen, recherchiert den Autor oder die Institution, liest eine andere Quelle dazu und kommt dann sukzessive zu Schlussfolgerungen und zu einer solide begründeten eigenen Meinung. Das basiert alles auf dem Lesen komplexer Texte, auf Schlussfolgerungen und Nachforschungen, auf Feinheiten und Zwischentönen. Unsere Befunde besagen, dass man sich bei geringer Literalität viel seltener eine eigene Position zutraut, dass man denkt, nicht mitreden zu können und davon abhängig ist, dass Freunde und Bekannte – oder Social Media – einem vorgeben, was man richtig finden soll.

Was bedeutet das dann für die gesellschaftliche Teilhabe?

Beruf und Familie funktionieren für viele Betroffene im Großen und Ganzen, allerdings meist bei eher geringem Einkommen und entsprechend kleinem Radius im Leben – manchmal reicht es etwa nicht für eine Woche Urlaub im Jahr. Schwierig ist es, wenn die Bedingungen in Industrie, Handel und Dienstleistungen sich ändern: Wandel und Weiterbildung sind oft mit Lesen verbunden und das fällt schwer. Die Betroffenen sagen, sie haben Sorge um ihren Job und es wäre schwierig für sie, eine vergleichbare Stelle zu bekommen.

Sie sprechen in diesem Zusammenhang von einer speziellen Vulnerabilität. Was meinen Sie damit?

Wir sagen, die Betroffenen sind nicht vollständig von Teilhabe ausgeschlossen, aber sie sind gefährdet, verletzbar, eben vulnerabel. Negative Effekte von gesellschaftlichen Veränderungen treffen sie schneller als andere. Sie haben weniger Zugang zu gesunden Arbeits- und Wohnverhältnissen, für sie sind digitale Nahverkehrstickets kompliziert, sie können ihre Kinder nicht bei den Hausaufgaben unterstützen.

Geringe Literalität ist also kein isoliertes Phänomen. Was können Sie aus Ihrer Forschung heraus zu den sozialen Hintergründen der Betroffenen berichten?

Geringe Literalität korreliert, wie bereits erwähnt, mit geringen Einkommen, häufigerem Sozialleistungsbezug, höherer Arbeitslosigkeit, schlechter formal gebildetem Familienhintergrund, mit Migration und Mehrsprachigkeit und mit Behinderung und Beeinträchtigung. Soziale Klasse ist ein fundamentaler Grund für geringe Literalität, dazu gehört auch die Ausgrenzung durch sogenannte Sonder- oder Förderschulen.

Gleichzeitig zeigen ihre Forschungsergebnisse aber, dass gering literalisierte Menschen eben doch vielfältig gesellschaftlich teilhaben, sozial eingebunden und häufig auch berufstätig sind. Was machen die Menschen mit dem, was sie an Literalität können?

Wir haben jüngste Projektergebnisse zu künstlicher Intelligenz in der Grundbildung: ChatGPT kann eine Hilfe sein, wenn es am Tablet verwendet wird, am besten mit Diktier- und Vorlesefunktion. Dabei ist es besonders wichtig, das kritische Hinterfragen zu üben: Stimmt es, was mir die KI ausgibt? Kann die KI Dinge, bei denen Fakten nicht wichtig sind, etwa Fantasiegeschichten entwerfen oder meine Kinder durch Fragen bei der Berufswahl beraten?

Fördern also digitale Kommunikationsformen wie KI, Chats, Sprach- oder Kurznachrichten die literale Teilhabe – oder stellen sie unterm Strich doch eher eine Gefahr dar?

Chats und Sprachnachrichten sind in der Tat ein gern genutztes Hilfsmittel in diesem Bereich, und unsere Befunde zeigen auch eher einen teilhabefördernden Effekt als eine Gefahr für die Qualität der Schriftsprache. Per Kamera digitalisierte und vorgelesene Texte sind zudem bei Behördengängen eine gute Hilfe. Bei Mehrsprachigkeit sind die KI-Übersetzungsfunktionen vieler Apps erfolgreich im Einsatz.

Wenn man geringe Literalität (auch) als Ausdruck sozialer Ungleichheit versteht, wie kann man ihr dann am besten entgegenwirken?

Man greift immer von zwei Seiten zu. Erstens versucht man, die Literalität der Betroffenen zu verbessern, zweitens ist die Umgebung fairer zu gestalten – mit besseren Beschriftungen und Symbolen, mit leichteren Texten. Zwei Beispiele: Auf dem Halteknopf im Bus steht »Fahrgastwunsch« und die Reservierungsanzeigen bei der Deutschen Bahn lauten »ggf. freigeben«. Das ist schon für Touristen aus den Niederlanden völlig unverständlich und für gering literalisierte Erwachsene unnötig ausgrenzend.

Um die Zahl gering literalisierter Menschen zu verringern, hat die Bundesregierung zusammen mit den Bundesländern von 2016 bis 2026 die »AlphaDekade« ausgerufen und dabei zahlreiche Forschungs- und Praxisprojekte gefördert. Wie beurteilen Sie den Erfolg dieser Dekade kurz vor ihrem Ende?

Die Dekade hat einige bemerkenswerte Effekte gezeitigt. Vor allem ist die Tabuisierung und Stereotypisierung zurückgegangen, was wiederum dazu führt, dass sich betroffene Erwachsene eher öffnen und Unterstützung in Anspruch nehmen. Wir wissen inzwischen, dass Grundbildungskurse das Selbstbewusstsein stärken und damit zur kritischen Meinungsbildung beitragen. Das sind auch Effekte der Forschung zum Thema und seiner medialen Sichtbarkeit, was von Bund und Ländern zur Kenntnis genommen wird, die inzwischen eine Reihe von Verstetigungen in der Infrastruktur vorgenommen haben. Der Bund unterstützt diese Entwicklung zudem durch eine neue Förderlinie. Etwas karg fällt laut Halbzeitbericht der Dekade jedoch die Finanzierung der Forschung aus, hier wird eher wenig investiert.

Wie sehen denn die politischen Pläne ab 2026 aus? Und was erwarten Sie persönlich hier von der Politik?

Wir bräuchten viel mehr Forschung zum unterstützenden Umfeld gering literalisierter Erwachsener, weil dort der Zugang zu den Betroffenen liegt, die in der Regel nicht von selbst in einen Kurs gehen. Wir brauchen aber auch Forschung zu neuen Diskriminierungsgefahren: Wer als nicht sehr leistungsstark gilt, wird von rechtspopulistischen Parteien enorm abgewertet und – wenn es nach deren Vorstellungen geht – am besten gleich ausgesondert. Das führt zu Programmkürzungen, zu Stigmatisierungen, zu Sündenbockzuweisungen. Hiergegen müssen die demokratischen Parteien, aber auch die Verbände und Bildungsträger unbedingt Schutzstrukturen einziehen.