Lese- und Schreibprobleme sind mit hohem Leidensdruck verbunden – und die Betroffenen leiden häufig ohnehin schon unter Mehrfachdiskriminierung. Erschienen in: ND.Die Woche vom 07.09.2024
Rein statistisch gesehen müsste jeder Mensch in Deutschland jemanden kennen, die oder der nicht richtig lesen und schreiben kann: Denn rund 6,2 Millionen Erwachsene gelten in der Bundesrepublik als »gering literalisiert«. Das heißt, dass das Lesen und Schreiben ihnen starke Probleme macht. Dabei kämpfen 300 000 von ihnen schon mit Buchstaben, der Rest kann einzelne Worte oder Sätze bewältigen, ist jedoch nicht oder nur kaum in der Lage, komplexere Texte wie einen Vertrag oder einen Behördenbrief zu verstehen. Hinzu kommen weitere vier Millionen Menschen, die nur kurze Texte lesen und schreiben können und sich durch eine fehlerhafte Rechtschreibung auch bei einfachem Wortschatz auszeichnen. Damit haben insgesamt 20,5 Prozent der Bevölkerung in Deutschland deutliche Lese- und Schreibprobleme.
Einer von ihnen ist Jens Böhme. Der 67-Jährige heißt im wirklichen Leben ganz anders und gehört zu den zahlreichen Interviewpartner*innen, die ihm Rahmen eines Forschungsprojektes an der Humboldt-Universität zu Berlin zu ihrer »geringen Literalität« befragt wurden. Bereits in früher Schulzeit entwickelte Böhme Probleme mit dem Lesen und Scheiben, denen er dadurch aus dem Weg ging, dass er die Schule schwänzte. Seine Eltern, beide berufstätig, wussten davon nichts. Verwarnungen fing er ab, Unterschriften fälschte er. Bei Prüfungen mogelte er sich durch, schrieb von seinen Nachbar*innen ab oder versuchte es mündlich, wie er im Gespräch berichtet.
»Durch das Leben geschummelt«
Man merkt Böhme an, dass es ihm nicht leichtfällt, über dieses Thema zu reden. Am Ende seiner Schulzeit kann Böhme stotternd vorlesen und unter Schwierigkeiten einzelne Wörter bilden. Für einen Schulabschluss reicht das jedoch nicht. Trotzdem konnte er eine handwerkliche Ausbildung beginnen, in der er wiederum vor allem mündlich durchkam und sich auf seine praktischen Tätigkeiten fokussierte. Bis zu seiner Rente war er so in verschiedenen Berufen tätig, zumeist als Klempner. Er habe sich »durch das Leben geschummelt, die ganzen Jahre«, so Böhme.
Dass er kaum lesen und schreiben kann, verschweigt er lange und entwickelte verschiedene Geheimhaltungsstrategien, um nicht aufzufallen. Wie bereits in der Schule versuchte er im Alltag, mündlich durchzukommen. Musste er bei Ärzten Formulare ausfüllen, antwortete Böhme, er habe seine Brille vergessen. Betroffene wissen ihre schriftsprachlichen Defizite meist mit anderen Fähigkeiten zu kompensieren. So sagt auch Böhme an anderer Stelle, er sei kein Schreiber und spreche viel lieber. Selbst sein Vorgesetzter wusste bis zu Böhmes Verrentung nichts von dessen Problemen: »Mein Chef hat das auch nicht mitbekommen. Ich habe das ja so gut versteckt alles«, erinnert er sich. Das dauernde Verheimlichen und die Suche nach Ausreden führten bei Böhme dazu, dass sein Arbeitsalltag ohne Schriftsprache permanenten Stress bedeutete und er dauernd mit der Sorge vor Gesichtsverlust konfrontiert war.
Jens Böhme ist dabei durchaus ein typischer Fall. Von den Menschen mit geringer Literalität haben in Deutschland zwar 76 Prozent einen Schulabschluss und 62 Prozent sind erwerbstätig, doch verglichen zur Gesamtbevölkerung verlassen sie häufiger die Schule ohne Abschluss und sind eher erwerbslos oder in prekären Beschäftigungen tätig. Die Zahlen belegen aber auch, dass geringe Literalität nicht den kompletten Ausschluss bedeutet. Auch betroffene Menschen haben teil – in der Schule, im Berufsleben, in der Familie und in der Nachbarschaft. Diese Daten basieren auf der deutschlandweit durchgeführten »LEO-Studie 2018 – Leben mit geringer Literalität« zur Erfassung der Lese- und Schreibkompetenzen der Deutsch sprechenden erwachsenen Bevölkerung.
Vielfältige Ursachen und Probleme
Doch wie kann es sein, dass in der »Bildungsrepublik Deutschland« so viele Menschen nicht richtig lesen und schreiben können? Die Suche nach Gründen ist komplex, einfache Erklärungen gibt es nicht. Selten gibt es die eine Ursache für Lese- und Schreibprobleme. Häufig geht es um ein Zusammenspiel von individuellen, familiären, schulischen und gesellschaftlichen Faktoren. Dies bestätigen auch die mehreren Dutzend Interviews, die das Berliner Forschungsteam durchgeführt hat. Dort wurden häufig Krankheiten erwähnt, die bereits den frühen Lernprozess als Schüler*innen unterbrochen haben, aber auch die Tatsache, dass das Lesen und Schreiben nicht vorgelebt wurde.
Vielen betroffenen Kindern wurde nicht oder nur selten vorgelesen, die Eltern schrieben selbst keine Briefe oder lasen nur selten Zeitung. Hinzu kamen meist fehlende finanzielle Mittel, die etwa Nachhilfe möglich gemacht hätten. In anderen Familien wurde das Lesen und Lernen schlicht nicht so wichtig genommen, Eltern hatten wenig Zeit oder andere Probleme. Zudem schafft es die Schule manchmal nicht, alle Kinder ihren Bedürfnissen entsprechend zu unterstützen und zu fördern. Denn dass in Deutschland alle Kinder in die Schule gehen müssen, heißt noch lange nicht, dass sie es mit gleichen Voraussetzungen tun. So kann es passieren, dass Schüler*innen nicht das bekommen, was sie brauchen, um lesen und schreiben zu lernen. Manchmal fällt dies auch gar nicht so auf, weil sie es – wie Jens Böhme – verschweigen. Immer wieder haben die Befragten in den Interviews dabei von mulmigen Gefühlen oder sinkendem Selbstvertrauen gesprochen, wenn der Abstand zu den Mitschüler*innen immer größer wurde.
Auch die Forschung zu geringer Literalität zeigt, dass betroffene Menschen ein geringes Zutrauen in die eigenen Fähigkeiten und ein negatives Selbstbild entwickeln. Viele offenbaren ihre Probleme daher nicht. Auch die 79-jährige Elfriede Lütz – ebenfalls ein Pseudonym – berichtet im Interview, dass über Jahre selbst ihre eigenen Kinder »das nicht gewusst haben. Das habe ich gar nicht erst gesagt, weil ich mich geschämt habe.« Das ständige Verbergen der Tatsache, nicht richtig lesen und schreiben zu können, fordert im Alltag fast die gesamte Aufmerksamkeit und reduziert damit auch die Kraft, die sonst dem Familienleben zur Verfügung stehen würde. All dies bringt Überforderung mit sich, führt zu Frustrationen und erhöht die Gefahr von psychischen Problemen wie Depressionen. Zudem hemmt all dies, wieder mit dem Erlernen des Lesens und Schreibens zu beginnen.
Das Problem der Erreichbarkeit
»Geringe Literalität« ist ein gesamtgesellschaftliches Problem, das jedoch selten eine breite Öffentlichkeit bekommt. Hier ist die Politik angesichts der hohen Betroffenenzahlen gefordert, unbürokratisch und schnell zu helfen. Die Bundesregierung hat daher zusammen mit den Bundesländern für 2016 bis 2026 die »Nationale Dekade für Alphabetisierung und Grundbildung« (AlphaDekade) ausgerufen. Deren oberstes Ziel ist es, Lese- und Schreibfähigkeiten sowie das Grundbildungsniveau Erwachsener in Deutschland deutlich zu erhöhen.
Betroffene sollen ermutigt werden, Freund*innen, Familie oder Kolleg*innen anzusprechen, sich anzuvertrauen. Dabei ist im Rahmen der AlphaDekade einiges in Bewegung gekommen. Während die Länder im Rahmen ihrer Zuständigkeit für allgemeine Bildung insbesondere reguläre Informations-, Beratungs- und Lernangebote für gering literalisierte Erwachsene umgesetzt haben, förderte das Bundesministerium für Bildung und Forschung (BMBF) vor allem Forschungs- und Entwicklungsprojekte. Auf nd-Anfrage bewertete eine Sprecherin des Ministeriums den Erfolg der Dekade als »gut«. Doch läuft das große Maßnahmenpaket in zwei Jahren aus, und ein Nachfolgeprogramm für die AlphaDekade gibt es bisher nicht, so die BMBF-Sprecherin weiter. Man plane allerdings neue Projekte, die bis 2027 laufen sollen. Wie es danach weitergeht, ist unklar.
In den letzten Jahren sind zudem verstärkt Versuche unternommen worden, »aufsuchende Bildungsarbeit« zu praktizieren. Potenzielle Lernende sollen über ihre Lebenswelt, über die Arbeitswelt, über Kolleginnen und Kollegen am Arbeitsplatz angesprochen und motiviert werden, etwa in Grundbildungskursen nochmal das Erlernen des Lesens und Schreibens anzugehen. Zudem bieten Organisationen wie Volkshochschulen oder auch einige Unternehmen berufsspezifische Kurse an, beispielsweise Schreiben und Lesen für Berufskraftfahrer*innen oder Pflegepersonal.
Mit den Schwierigkeiten nicht allein
All das kostet Zeit, Geld und Energie, doch scheinen solche Projekte erfolgreich zu sein. Dr. Theresa Hamilton leitet das Berliner Grund-Bildungs-Zentrum, das sich als der zentrale Ansprechpartner zum Thema Alphabetisierung und Grundbildung in der Hauptstadt versteht. Es richtet sich an Betroffene, Kursleitende, Multiplikator*innen, Mitarbeiter*innen in Einrichtungen und Unternehmen sowie an Politik und Gesellschaft. Im »nd«-Gespräch erzählt Hamilton, dass es ganz vielfältige Motivationen für Erwachsene gibt, doch noch richtig lesen und schreiben zu lernen. Oft fassten sie den Mut, es noch einmal zu versuchen, wenn sich etwas in ihrem Leben verändere: Wenn sie eine neue Arbeitsstelle anträten, den Führerschein machten oder von Menschen aus dem privaten Umfeld dazu ermutigt würden. Eine weitere wichtige Motivation bilde hier die Familie. So war es übrigens auch bei Jens Böhme. Er nimmt derzeit an einem Grundbildungskurs teil, in erster Linie damit er seinen »Enkeln auch mal was vorlesen kann«, wie er im Interview berichtet.Und wie kann man betroffenen Menschen konkret helfen? Wichtig sei, dass sie wissen, sie sind mit diesen Schwierigkeiten nicht allein und werden keiner Stereotypisierung ausgesetzt, sagt Theresa Hamilton. »Nur so kommen wir gegen die jahrzehntelange Tabuisierung an.« Ein Schritt in diese Richtung ist der Weltalphabetisierungstag der Unesco, der seit 1965 immer am 8. September begangen wird. In ganz Deutschland finden zu diesem Anlass Veranstaltungen statt, die auf die Thematik aufmerksam machen, wie Infostände oder Beratungsangebote. Doch auch jenseits dessen bietet das Berliner Grund-Bildungs-Zentrum das ganze Jahr Schulungen für verschiedene Zielgruppen in Berlin an. »Wir richten uns mit unserer Arbeit nicht nur an Betroffene, sondern führen auch Sensibilisierungsschulungen durch, betreiben Öffentlichkeitsarbeit und organisieren Austausch- und Vernetzungsformate«, sagt Hamilton abschließend. Der Bedarf ist bei 6,2 Millionen gering literalisierten Menschen weiterhin absolut gegeben.