Erdoğan und der Schatten Öcalans

hristopher Wimmer zur zweifelhaften Normalisierung der Beziehungen zwischen der Türkei und Syrien. Erschienen in: ND.Der Tag vom 25.07.2024

Der türkische Präsident Recep Tayyip Erdoğan hat ein Ende der Militäreinsätze im Irak und in Syrien in Aussicht gestellt. Im Irak sei die kurdische Guerilla der PKK, die in der Türkei als Terrororganisation geführt wird, nahezu vollständig besiegt, und auch in Syrien sei die »Gefahr« von kurdisch-dominierten Kräften gebannt. Seit Jahren greift die Türkei den Irak und Syrien an, ist mehrfach völkerrechtswidrig mit Bodentruppen in Nordsyrien einmarschiert und hält große Teile der Region besetzt.

Nun könnte Erdoğans Ankündigung spürbare Folgen für die türkisch-syrischen Beziehungen haben. Im Zuge des syrischen Bürgerkriegs brach Ankara die diplomatischen Beziehungen zu Damaskus ab. Erdoğan hatte den syrischen Diktator Baschar al-Assad als »Mörder« bezeichnet und im Krieg oppositionelle islamistische Gruppen unterstützt. Assad wiederum forderte die Türkei auf, sich vollumfänglich von syrischem Boden zurückzuziehen.

Mit russischer Vermittlung zeichnet sich jedoch seit über einem Jahr eine Annäherung ab. Dies hat mehrere Gründe. Einerseits sitzt Assad so fest im Sattel wie seit Beginn des Bürgerkriegs nicht. Syrien ist wieder Mitglied in der »Arabischen Liga« und unterhält gute Kontakte zu Russland und China. Andererseits ist Erdoğan innenpolitisch unter Druck. Rund 3,2 Millionen syrische Geflüchtete leben in der Türkei. Die Stimmung im Land verschlechterte sich in den vergangenen Wochen spürbar, immer wieder kam es zu rassistischen Ausschreitungen vor allem gegenüber syrisch-kurdischen Geflüchteten.

Darüber hinaus gibt es aber einen weiteren gewichtigen Grund für die Ankündigung Erdoğans und eine Normalisierung der türkisch-syrischen Beziehungen: der gemeinsame Gegner »Rojava«. In dieser Region in Nordsyrien verwalten sich die Menschen seit 2012 auf den Werten Basisdemokratie, Geschlechtergerechtigkeit und Ökologie selbst – autonom vom syrischen Staat. Die Grundlagen hierfür bilden die Ideen des kurdischen Politikers und PKK-Gründers Abdullah Öcalan, der seit 1999 in türkischer Haft sitzt. In den Augen von Erdoğan und Assad ist Öcalan ein »Terrorist« und Rojava stellt für sie eine existenzielle Bedrohung für die Einheit der Türkei und Syriens dar. Dagegen scheinen die beiden Staatschefs nun gemeinsam vorgehen zu wollen.

Immer wieder sollen Gespräche zwischen Ankara und Damaskus über eine gemeinsame Militäroperation gegen Rojava stattgefunden haben. Wie diese konkret aussehen könnte, bleibt bislang unklar. Werden syrische und türkische Bodentruppen gemeinsam gegen Rojava vorrücken oder unterstützen türkische Drohnen und Flugzeugen die syrische Armee bei einem Angriff? Und vor allem: Wann würde ein solcher Krieg beginnen? Donald Trump hatte bereits angekündigt, im Falle seiner Wahl zum US-Präsidenten, die letzten 800 US-Soldaten, die weiterhin in Syrien im Kampf gegen den »Islamischen Staat« stationiert sind, abzuziehen. Dies würde den Weg für einen Krieg mit Bodentruppen in Nordsyrien freimachen, arbeiten doch Rojavas Streitkräfte im Anti-Terrorkampf mit den US-Truppen vor Ort zusammen.

Die Ankündigung, türkische Truppen abzuziehen, ist für die Menschen in Nordsyrien somit nur im ersten Moment eine gute Nachricht. Der Autonomieregion droht vielmehr eine neue Eskalation und dass eine Besatzungsmacht durch eine andere ersetzt wird.