Wo sind die Subjekte?

Peter Schadt vergisst in seiner Einführung »Digitalisierung« weitgehend die Arbeitskräfte. Rezension erschienen in: ethik und gesellschaft 1/23.

Wir befinden uns vermeintlich mitten in einer Zeitenwende, dem Zeitalter der Digitalisierung. Von der Arbeits- über die Lebenswelt, über die Freizeitgestaltung und den öffentlichen Raum bis hin zur Politik und Privatsphäre soll sie angeblich alle bestehenden Verhältnisse umpflügen.

Technisch werden unter dem Begriff der Digitalisierung Informations- und Kommunikationsprozesse verstanden, die mittels digitaler Speicher-, Übertragungs- und Verarbeitungstechnik verbessert werden sollen. Mithilfe innovativer Hard- und Software soll dies immer schneller, flexibler und ortsunabhängiger möglich sein. Schenkt man dem Glauben, stehen wir vor der »vierten industriellen Revolution«. Diese Dynamik wird häufig als unaufhaltsamer Naturprozess verstanden, auf den die Menschen keinen Einfluss haben, und sie gleicht damit dem Globalisierungsdiskurs der 1990er-Jahre. Doch fallen Digitalisierung und Industrie 4.0 nicht vom Himmel, in technische Neuerungen wird im Kapitalismus aufgrund von Profitinteressen investiert.

Genau das ist der Ausgangspunkt in Peter Schadts Einführungsband Digitalisierung, erschienen bei PapyRossa. Sehr grundlegend befasst sich Schadt, von Haus aus Sozialwissenschaftler und als Gewerkschaftssekretär beim DGB Nord-Württemberg tätig, mit der Beziehung zwischen kapitalistischer Produktionsweise und technischen Neuerungen, die diese seit jeher auszeichnen und aktuell eben unter dem Schlagwort »Digitalisierung« verhandelt werden. Unternehmen setzen sich für technische Neuerungen ein, um Produktivitätssteigerungen zu erreichen. Grundsätzlich ist die kapitalistische Produktionsweise durch das Konkurrenzprinzip geprägt, das die Unternehmen – wie es mehrfach bei Karl Marx heißt: »bei Strafe ihres Untergangs« – dazu zwingt, durch neue Geschäftsmodelle, effizientere Betriebsführung und immer neue Produkte besser zu sein als andere – regelmäßig mit arbeitsund personalpolitischen Auswirkungen. Stetiger Innovationsdruck ist daher für Unternehmen nichts prinzipiell Neues, aktuell verlagert er sich jedoch zunehmend ins Virtuelle.

Auf gut 100 Seiten bietet der schmale Band eine Einführung in den Themenbereich und fokussiert sich in erster Linie auf die Strategien des Staates und der Unternehmen bei der Umsetzung der Digitalisierung bzw. der »Industrie 4.0«. Hinzu wird auch die Digitalisierung beim Militär, etwa beim Einsatz von Drohnen bis zum Cyberkrieg sowie bei der Energiewende verhandelt.

Auf den ersten Seiten des Buchs wird man umfänglich über verschiedene Aspekte der Digitalisierung informiert. Man weiß danach, was RFID-Chips, Cyber-Physische Systeme, Cyber-Physische Produktionssysteme, Roboter oder Algorithmen sind. Ergänzt wird diese Liste durch Internet der Dinge, Big Data, Plattform-Kapitalismus oder Smartphones. So geht es mit den Definitionen weiter, bis man bereits über ein Drittel des Buchs hinter sich hat. Als Referat und Einführung ist dies durchaus lehrreich. Schadt macht dabei auch deutlich, dass all dies nicht einfach nur (technisch) geschieht, sondern gemacht wird. »Die Digitalisierung selbst tut gar nichts« (12), schreibt er richtig. Im zweiten Drittel verdeutlicht Schadt die Interessen des Staates und der Unternehmen bei der Umsetzung all dieser Spielarten der Digitalisierung, die er zuvor definiert hat. Dies ist wichtig – gerade auch für eine Einführung –, um der Digitalisierung selbst ihren vermeintlichen Subjekt-Charakter zu nehmen. Vielmehr muss es gerade darum zu tun sein, zu erkennen, dass die Überhöhung der Digitalisierung zum Subjekt selbst eine Strategie von Staats- und Unternehmensseite ist, um die »Ausweglosigkeit« von Jobverlusten durch Roboterisierung sowie Veränderungen in der Arbeitswelt oder im Sozialstaat zu begründen. Hierfür leistet Schadt einen wertvollen Beitrag.

Als Gewerkschaftssekretär ist es jedoch verwunderlich, dass er den Arbeitskräften gerade einmal neun Seiten widmet. Deren Subjektivität und Handlungsfähigkeit spielen kaum eine Rolle. In erster Linie werden sie als »Opfer« der Digitalisierung betrachtet. Dafür werden – eher pflichtschuldig – die wohlbekannten Beispiele intensivierter Arbeitsformen wie etwa bei Lagermitarbeiterinnen von Amazon oder bei Paketlieferantinnen kurz erwähnt. Sonst fehlen die Arbeitskräfte im Buch jedoch weitgehend. Wenig erfährt man über die konkreten Folgen der Digitalisierung in der Arbeitswelt; verwunderlich, werden sie doch gerade dort besonders deutlich und lebensweltlich erfahrbar. Dort treten Entgrenzung und dauerhafte Erreichbarkeit durch Smartphone, Cloudwork und mobiles Arbeiten vermehrt an die Stelle von regulären Beschäftigungsverhältnissen. Die Fragmentierung der Produktionsprozesse führt zu einer tiefen Zersplitterung der Arbeit, durch die die Beschäftigten verstärkt in Wettbewerb zueinander treten.

Ebenso wenig setzt sich Schadt, jenseits von Ideologiekritik im letzten Drittel des Buchs, mit praktischen Formen der Aneignung oder Kritik der Digitalisierung auseinander. Schadt, der die Digitalisierung einseitig als Macht- und Herrschaftsinstrument des Staates und der Unternehmen betrachtet, erwähnt nicht, dass technische Neuerungen nicht nur dies sein können. Sie sind für bestimmte Möglichkeiten offen und für andere geschlossen: Das Fließband ist entstanden, als es darum ging, verschiedene kleine Arbeitsschritte möglichst effizient zu gestalten. So wird es auch immer bleiben. Algorithmen hingegen können so umprogrammiert werden, dass sie emanzipatorisch genutzt werden können. Mit anderen Worten: Technologischer Fortschritt und Digitalisierung bedeuten nicht automatisch Herrschaft und Unterdrückung. Sie können sogar in ihr Gegenteil umschlagen. Technik unter kapitalistischen Bedingungen bedeutet nicht automatisch (Massen-)Erwerbslosigkeit, sondern könnte auch zu emanzipatorischen Entwicklungen wie Arbeitszeitverkürzung führen. Dieser Prozess ist gestaltbar und wird wesentlich bestimmt durch die Stärke der Beschäftigten und ihrer Organisationen.

Arbeitsverhältnisse und Arbeitszeiten ändern sich, die Überwachung nimmt zu, ebenso wird die Produktion mehr und mehr bestimmt durch intelligente Maschinen. Doch nicht nur die Arbeitswelt ist von der Digitalisierung betroffen, viele gesellschaftliche Bereiche können auf Basis neuer digitaler Technologien umstrukturiert werden: Alltags- und Privatleben, Bewusstsein und Verhalten, soziale Beziehungen, Politik und Öffentlichkeit. Auch dazu findet man kaum etwas im Buch. Wenn jedoch die Kapitalseite über lean production und »indirekte Steuerung« versucht, alle Lebensbereiche zu ökonomisieren, müssen progressive Akteure darauf eine Antwort finden. Dann sollten sie nicht mehr nur um die Lohnhöhe streiten, sondern müssten die Beschäftigten im gesamten Lebenszusammenhang in den Blick nehmen. Fortschrittliche Gewerkschafterinnen wussten dies schon immer und haben neben Forderungen nach höherer Bezahlung auch immer die Reproduktionskosten der Ware Arbeitskraft bedacht und daher Renten- und Gesundheitspolitik betrieben sowie Kämpfe um Arbeitszeit und -formen ausgefochten. Auch (digitalisierte) Lohnabhängige sind immer gleichzeitig Eltern, Mieterinnen, Kund*innen etc. All dies gilt es zusammen zu denken – unter digitalisierten Bedingungen sogar noch mehr. Wenn schon die Digitalisierung richtig als »Scheinsubjekt« erkannt wird, ist es doch gleichzeitig wichtig, die wirklichen Subjekte im Prozess ihrer Gestaltung nicht unsichtbar zu machen.

Peter Schadt (2022): Digitalisierung. Reihe Basiswissen Politik / Geschichte / Ökonomie, Köln: PapyRossa. 118 S.,EUR 9,90.