Neue Ulbricht-Biografie zum 50. Todestag erschienen. Erschienen in: nd vom 01.08.2023
Spitzbart, sächsischer Dialekt, Fistelstimme – und dann dieses Zitat zur Berliner Mauer. Wer heute an Walter Ulbricht denkt, sieht in ihm wohl im besten Fall eine Witzfigur, im schlimmsten einen totalitären Diktator. Zu letzterem Urteil bekennt sich offen Ilko-Sascha Kowalczuk. Ulbricht sei ihm immer fremd gewesen, so der ostdeutsch sozialisierte, zur DDR in Gänze äußerst kritisch eingestellte Historiker, der nun den ersten Teil einer monumentalen Ulbricht-Biografie veröffentlicht hat.
1000 Seiten widmet er allein der Zeitspanne von dessen Geburt bis 1945, als die sogenannte Gruppe Ulbricht von Moskau in das kriegszerstörte, befreite Berlin entsandt wurde. Kowalczuk zeichnet Ulbrichts Aufstieg in der Arbeiterbewegung, seine Arbeit in der Partei in der Weimarer Republik sowie seinen Kampf gegen das NS-Regime im Exil in Prag, Paris und Moskau nach.
In der Einleitung schreibt der Autor – des Wohlwollens für den Kommunismus gänzlich unverdächtig –, dass ihm Ulbricht während seiner vierjährigen Recherche, bei der er 60 Archive in zwölf Ländern besucht und über 4000 Literaturtitel verarbeitet hat, dennoch fast »sympathisch« geworden sei. Wie das?
Kowalczuk präsentiert den 1893 in Leipzig geborenen, aus einer sozialdemokratischen Arbeiterfamilie stammenden Mann als einen Funktionär, der sich durch Intelligenz, ein enormes autodidaktisch erworbenes Wissen und eine unfassbare Energie auszeichnete. Vollumfänglich habe er sich für die sozialdemokratische und später kommunistische Sache eingesetzt.
Ausführlich schildert Kowalczuk, wie sich Ulbricht vom Tischlerlehrling zunächst zu einem Kriegsgegner des Ersten Weltkriegs und dann zu einem engagierten Antifaschisten entwickelte, der rasch in der kommunistischen Arbeiterbewegung Karriere machte und zu einem bedeutenden »Berufsrevolutionär« wurde. Zunächst Parteichef in Thüringen, war er, der 17 verschiedene Tarnnamen besaß, viel unterwegs, organisierte und plante politisches Vorgehen. Später reiste er für die Partei kreuz und quer durch Europa.
Seine Sympathien für Ulbricht begründet Kowalczuk jedoch in erster Linie mit dessen Fleiß und Durchhaltevermögen, mit seiner Bescheidenheit und Konsequenz. Sein Protagonist sei jemand gewesen, der sich – ähnlich wie August Bebel oder Wilhelm Pieck – aus einfachen Verhältnissen hochgearbeitet hatte, als Heranwachsender viel Wert auf Bildung und Kultur legte, Museen besuchte, sich für Kunst sowie Architektur interessierte und vor allem Marx, immer wieder Lenin, aber auch Goethe las.
Mag man auch nicht in allem mit dem Autor übereinstimmen und manch Experte vielleicht historische Ungenauigkeiten entdecken, so ist dieser Darstellung immerhin hoch anzurechnen, dass Ulbricht nicht vom Ende her – seinem Wirken als Partei- und Staatschef in der DDR – betrachtet, vielmehr sein Denken und Tun in der jeweiligen Zeit verortet wird. Verdeutlicht werden Widersprüche, Fehleinschätzungen und Rückschläge, die Ulbricht in seinem Leben mehrfach einstecken musste. Und doch tritt dieser hier den Leser*innen als eigenständige, selbstbewusste Persönlichkeit gegenüber, trotz aller Zwänge und Abhängigkeiten.
Die Lektüre verlangt den Leser*innen allerdings mitunter Durchhaltevermögen ab, die Erwartungshaltung wird nicht immer belohnt. Trotz alledem bringt dieses Buch dem Lesepublikum den Menschen Walter Ulbricht näher, der am 1. August 1973, genau während der X. Weltfestspiele der Jugend und Studenten in Berlin, gestorben ist.
Ilko-Sascha Kowalczuk: Walter Ulbricht. Der deutsche Kommunist (1893–1945). C. H.Beck, 1006 S., geb., 58 €; E-Book: 49,99 €.