Eine Internationale Arbeitsbrigade ist zu Besuch in den Kurdengebieten des Irak. Erschienen in: nd.aktuell vom 05.08.2022
Was können wir uns unter einer Internationalen Arbeitsbrigade vorstellen?
Jake: Wir sind insgesamt sieben Menschen aus Australien, Kastilien, Katalonien und Deutschland. Wir alle haben einen aktivistischen Hintergrund. Unser ursprünglicher Plan war, in das Autonomiegebiet in Nord- und Ostsyrien zu reisen – den meisten eher unter dem Namen »Rojava« bekannt. Vor zehn Jahren kam es dort zu einer Revolution, wir wollten sehen, wie sich die Strukturen vor Ort entwickelt haben. Wir wollten vor allem kommen, um die Gesellschaft zu verstehen und von ihr zu lernen. Interview
Jake Lloyd Jones, 54 Jahre, ist Dokumentarfilmer aus Sydney in Australien; Niels, 39 Jahre, arbeitet als Informatiker in Deutschland. Beide sind Teil einer »Internationalen Arbeitsbrigade«, die sich gerade in Kurdistan aufhält, genauer im Nordirak, um vor Ort die kurdische Selbstverwaltung zu studieren. Mit den beiden sprach Christopher Wimmer.
Wie sieht euer Aufenthalt in Kurdistan aus?
Niels: Den überwiegenden Teil sind wir in der nordirakischen Stadt Sulaimaniyya und besuchen diverse Institutionen, Familien und Freunde. Dabei essen, wohnen und leben wir gemeinsam mit den örtlichen Genoss*innen, lernen ihre Sprache und Kultur kennen und versuchen, ein Verständnis ihrer Lage zu bekommen.
Was heißt das konkret?
Niels: Wir haben ein sehr volles Programm mit vielen Eindrücken: Direkt am ersten Tag waren wir beim dritten Kongress von »Tevgera Azadi«, der Partei der kurdischen Freiheitsbewegung im Irak. Ebenso haben wir die Vertretung der autonomen Administration von Nord- und Ostsyrien (Rojava) besucht und mit verschiedenen Parteien gesprochen, so zum Beispiel mit der PYD, der »Partei der Demokratischen Union« in Syrien, die maßgeblich die Rojava-Revolution vorangetrieben hat, sowie mit der PADÊ, der »Jesidischen Partei für Freiheit und Demokratie.« Ebenso haben wir mehrere Frauen- und Jugendorganisationen der Stadt besucht und konnten uns aus erster Hand über die Probleme und Herausforderungen informieren. Besonders beeindruckend war für uns der Besuch des Museums »Amna Suraka«, das an den Giftgasangriff auf die Stadt Halabdscha erinnert. Bei diesem Angriff der irakischen Luftwaffe 1988 starben bis zu 5000 Menschen – die meisten waren Kurdinnen und Kurden.
Eine erste Brigade scheiterte vor wenigen Wochen beim Versuch, die Grenze nach Syrien zu passieren und nach Rojava zu kommen. Ihr habt euch daher schon vorab entschieden, ein Programm im kurdischen Teil des Irak zu machen.
Jake: Ja, auch in den kurdischen Gebieten im Irak kann man einiges lernen – und es ist wichtig, zu kommen. Die anhaltende soziale Revolution, die in Rojava passiert, hat auch hier Auswirkungen auf alle kurdischen Gebiete und wird auch hier im Irak wahrgenommen. Auch im kurdischen Teil des Irak sind die Menschen direkt betroffen. Wir haben mit Menschen sprechen können, die uns berichtet haben, dass die Türkei hier in der Region zum Beispiel vor einem Monat Chemiewaffen gegen mutmaßliche Stellungen der kurdischen Arbeiterpartei PKK eingesetzt hat.
Am 20. Juli kamen bei einem – vermutlich von der Türkei ausgeführten – Bombenangriff auf ein Flussufer in der nordirakischen Provinz Duhok acht Menschen ums Leben und 23 weitere wurden verletzt. Wie ging es euch damit?
Jake: Wir waren tief betroffen und sehr schockiert: An diesem Tag hatten wir nämlich frei und waren an einem ganz ähnlichen, touristisch geprägten Ort – mit einem schönen Wasserfall und vielen irakischen Touristen, die vor allem aus Bagdad kamen. Es war also ein ganz ähnlicher Ort wie in Duhok. Wir haben dann am Abend viel darüber diskutiert, dass es auch uns hätte treffen können.
Die Opfer des Angriffs waren alles Zivilist*innen.
Niels: Ja, darüber wurde auch vergleichsweise viel berichtet. Vor Ort haben wir aber auch nochmal deutlich erfahren, wie wenig sich die Weltöffentlichkeit für die andauernden völkerrechtswidrigen Angriffe der Türkei auf den Nordirak interessiert. Dort werden nahezu täglich vermeintliche Guerillastellungen bombardiert. Dabei kommt es immer wieder zum Einsatz von chemischen Waffen, ganze Dörfer werden zerstört. In den kurdischen Gebieten im Nordirak sterben nahezu täglich Zivilisten, ohne dass jemand darüber berichtet.
Was hat euch vor Ort am meisten beeindruckt?
Jake: Vor allem haben wir etwas gelernt über die enorme Bedeutung von Feminismus und von Frauen in der Revolution. Das hat uns auch am meisten überrascht. Man kann die Veränderungen von Frauenrechten richtig sehen. Vor einer oder zwei Generationen war es hier vorwiegend eine feudale Gesellschaft, in der die Stammeszugehörigkeit noch eine große Rolle spielte. Wenn man jetzt hier ist, merkt man, dass die Geschlechter auf einer Augenhöhe sind. Vielfach sind die Frauen sogar die Anführerinnen gesellschaftlicher Veränderungen.
Die Rojava-Revolution und allgemein Kurdistan sind für viele Linke ein positiver Bezugspunkt geworden. Welche Rolle spielt Kurdistan für euch?
Jake: Es klingt vielleicht pathetisch, aber Kurdistan ist ein Hoffnungsschimmer, der uns zeigt, dass die Möglichkeit besteht, auf eine bessere Art und Weise zusammenzuleben und eine Gesellschaft auf der Basis von direkter Demokratie, Frauenbefreiung und Ökologie aufzubauen und zu organisieren. Die Angriffe auf Kurdistan zeigen jedoch auch, wie weit die internationale Staatengemeinschaft geht, allen voran die Türkei, um den Aufbau einer solchen Gesellschaft zu verhindern.