Ein Gesellschaftsvertrag soll die Unabhängigkeit in Nord- und Ostsyrien vom Assad-Staat sichern. Für den dezentralen und radikaldemokratischen Ansatz gibt es weltweit Aufmerksamkeit
Erschienen in (zusammen mit Elisabeth Olfermann): Der Freitag vom 30.06.2022
Bei Semalka bildet der Tigris die Grenze zwischen Irak und Syri en. Auf einer Pontonbrücke fährt man mit dem Minibus in wenigen Minuten über den gemächlichen Fluss. Er herrscht Betriebsamkeit auf beiden Seiten der Grenze, Grenzbeamte stehen bereit, die Kalaschnikows geschultert. Gepäck wird durchleuchtet, der Pass kontrolliert. Zwar betritt man danach syrisches Gebiet, doch zog sich der Staat hier vor Jahren zurück. Einen offiziellen Einreisevermerk gibt es daher nicht. Eine Frau mit Kopftuch überreicht lediglich einen losen Zettel, der die Einreise bestätigt. „Reveberiya Xweseriya Demokratik“ steht darauf: demokratische und autonome Selbstverwaltung.
Aufstand in Kobane
Dieses Projekt in Nord- und Ostsyrien wird zwar international nicht anerkannt, doch gibt es weltweit Aufmerksamkeit für das innovative System. Im Januar 2014 wurde in dieser Region – damals noch unter dem Namen Rojava – die Autonomie von der syrischen Zentralregierung proklamiert. Zuvor war es am 19. Juli 2012 in Kobane zum Aufstand der Bevölkerung gegen die Truppen von Präsident Baschar al-Assad gekommen, von denen die Stadt und Gebiete im Nordosten Syriens bald darauf geräumt wurden. Seither ist die Region selbstbestimmt, es kam zur Annahme einer ersten Quasi-Verfassung: dem Gesellschaftsvertrag. Dieses originelle Dokument beschreibt ein politisches System, das auf partizipativer Demokratie, Gleichstellung der Geschlechter und Ökologie beruht. Es will ebenso die friedliche Koexistenz verschiedener Religionen und Ethnien sichern. 2014 kam es zur Annahme einer „Charta des Gesellschaftsvertrags von Rojava“, die 2016 reformiert wurde. Derzeit wird der Vertrag erneut breit diskutiert und überarbeitet.
Zunächst ist die Tatsache bemerkenswert, dass von einem „Gesellschaftsvertrag“ und keiner „Verfassung“ die Rede ist. Dies reflektiert die Idee eines Zusammenlebens ohne übergeordnete Instanz. Der Nationalstaat wird in der Präambel des Gesellschaftsvertrags denn auch als Ursache für die Konflikte in Nord- und Ostsyrien dargestellt. Die Selbstverwaltung zielt insofern nicht darauf ab, einen Staat zu proklamieren. „Ein Grundprinzip unseres Vertrags ist es, flexibel und anpassungsfähig zu sein“, sagt Amina Omar, Co-Vorsitzende des Demokratischen Rates Syriens, seit 2015 politischer Arm der demokratischen Streitkräfte Syriens, die im Kampf gegen den Islamischen Staat (IS) standen. Ziel des Rates war ein säkulares, demokratisches und föderal gegliedertes Syrien. Dass der Gesellschaftsvertrag jetzt novelliert wird, hat für Omar viel damit zu tun, „dass nicht alle Gebiete in Nord- und Ostsyrien gleichzeitig befreit wurden. 2014 vereinten sich die drei Kantone Rojavas – Afrin, Kobane und Cizre – auf föderaler Basis. Die Institutionen dort beruhen immer noch auf dem Vertrag von 2014.“
Andere Regionen wie Tabqa, Raqqa und Deir ez-Zor wurden erst nach und nach befreit und haben andere Institutionen, deshalb braucht es einen neuen Gesellschaftsvertrag. Nachdem überwiegend arabisch dominierte Regionen vom IS befreit wurden, kontrolliert die Selbstverwaltung nun rund ein Drittel des syrischen Staatsgebiets. Ende des Jahres soll der Vertrag in einer aktualisierten Version vorliegen – geplant war ein früherer Zeitpunkt, doch Einschränkungen durch die Corona-Pandemie, Änderungen und Rückfragen haben den Prozess verzögert. Omar erklärt ausführlich, wie die Bevölkerung
beteiligt wurde.
Anerkennung tut not
Zunächst war ein Vorbereitungskomitee aus 158 Personen gewählt worden – Vertreter der Selbstverwaltung, Zivilgesellschaft, Parteien und verschiedenen Bevölkerungsgruppen. Davon wählte man 15 Männer und 15 Frauen aus, die binnen zwei Monaten einen Entwurf vorzulegen hatten. Anteil daran hatte Berivan Khaled, Co-Vorsitzende des Exekutivrates der Selbstverwaltung, so etwas wie die Regierung Nord- und Ostsyriens.
Der Entwurf des neuen Gesellschaftsvertrags enthält nun 99 Artikel, die
Grundrechte und Freiheiten, Prinzipien und soziale Regelungen festlegen, etwa die Koexistenz zwischen den Bevölkerungsgruppen, den Schutz der Umwelt oder die Frauenrechte. Festgeschrieben sind das Recht auf Selbstbestimmung, das Verbot von Todesstrafe und Folter. Volksversammlungen könnten auf all das noch Einfluss nehmen, ehe der Gesellschaftsvertrag abschließend vom Exekutivrat ratifiziert wird. Khaled meint, besonders wichtig sei es, den Volkswillen zu bündeln.
Entscheidungen würden durch die Zusammenarbeit von Bürgern und Verwaltung getroffen, Meinungen auf demokratische Weise eingeholt.
Der Kern eines dezentralen und radikaldemokratischen Systems
ist die Kommune, die je nachdem aus einigen Dutzend oder Hunderten von Haushalten besteht. Die verwalten sich eigenverantwortlich und suchen Lösungen für alltägliche Probleme – ohne die Hilfe staatlicher Stellen. „Unser System ist kein zentralisiertes System. Es zehrt vom Prinzip der Dezentralisierung“, definiert Berivan Khaled den Stellenwert der Kommunen. Diese sollen sich „von unten“ ausbreiten und können auch in Betrieben und zivilgesellschaftlichen Verbindungen entstehen, wodurch das gesamte soziale Leben demokratisiert werden kann. Amina Omar resümiert, dass bisher ein großer Teil der Bevölkerung den Vertrag akzeptiert und ihm zugestimmt habe. „Dieser Vertrag ist ein Gewinn für die Menschen, weil er die Rechte und Pflichten jedes Einzelnen garantiert. Natürlich können wir nicht sagen, dass eine solche Vereinbarung zu 100 Prozent perfekt ist, aber grundsätzlich wird er in hohem Maße akzeptiert.“ Noch mache sich ein „Mangel an demokratischem Gedankengut“ bemerkbar, der autoritäre Charakter des Assad-Regimes wirke nach. Omar mahnt zur Geduld, ist jedoch vorsichtig optimistisch: „In den letzten zehn Jahren haben sich demokratische Gedanken stark ausgebreitet, aber es ist ein langwieriger Kampf.“ Keine Nation schafft es so einfach, innerhalb eines Jahrzehnts den Willen zur Demokratie in der Bevölkerung zu
verankern.
Ein „Riesenerfolg“ wäre die Anerkennung der Selbstverwaltung durch möglichst viele Staaten, so Khaled Davrisch. Der 30-Jährige ist der Vertreter der Selbstverwaltung in Deutschland. „Nord- und Ostsyrien verkörpern eine demokratische Alternative in dieser krisengeschüttelten Region.“ Man sollte das endlich auch über Syrien hinaus würdigen. Doch inmitten anhaltender bewaffneter Konflikte in Syrien ist es schwierig, Entwicklungen für die Selbstverwaltung zu prognostizieren. Zwar herrscht in Nord- und Ostsyrien relative Stabilität, doch sind auch hier Lebensmittel und Kraftstoff knapp. In hohem Maße hängt der politische Erfolg der Selbstverwaltung von der militärischen Lage ab. Unabhängig davon ist der Gesellschaftsvertrag bereits jetzt ein Modell für die Verwaltung demokratischer, multikultureller Gesellschaften. „Wir sind bei alldem auf die Moral unseres Volks angewiesen, um unser demokratisches Projekt zum Erfolg zu führen – um in Sicherheit, Freiheit und Stabilität leben zu können“, meint Berivan Khaled.