Der türkische Präsident trägt öffentlich Streitigkeiten mit dem Westen aus, um sich im Inland zu profilieren, meint Christopher Wimmer.
Erschienen in: neues deutschland vom 14.06.2022
Man kann nicht sagen, dass der türkische Staatspräsident Recep Tayyip Erdogan das Rampenlicht scheut. In den vergangenen Wochen war ihm die internationale Aufmerksamkeit vielfach gewiss. So drohte Erdogan, ein Veto gegen den Nato-Beitritt von Schweden und Finnland einzulegen, da diese im Inland vermeintliche »Terroristen« der Arbeiterpartei Kurdistans (PKK) unterstützen würden. Damit sorgte Ankara für größere Verstimmungen im westlichen Militärbündnis. Ebenso kam es zur direkten Konfrontation mit den USA, als Erdogan ankündigte, in den selbstverwalteten Gebieten in Nordsyrien einmarschieren zu wollen, um diese von den kurdisch dominierten Volksverteidigungseinheiten YPG und YPJ zu »säubern«. Die YPG/YPJ sind jedoch ein verlässlicher Partner Washingtons im Kampf gegen den Islamischen Staat in Syrien.
Im US-Außenministerium stieß Erdogans Vorstoß daher auf direkte Ablehnung. Zusammen mit den Kurden wolle die USA die »Stabilität« in Syrien verteidigen. Am Wochenende brach Erdogan zudem einen weiteren Konflikt vom Zaun. Der Präsident beschuldigte seinen westlichen Nachbarn Griechenland, dessen Inseln in der östlichen Ägäis militärisch aufzurüsten. Dies hätte »katastrophale Konsequenzen«, so Erdogan. »Reißt euch zusammen, ich spaße nicht«, ergänzte er in Richtung Athen und erhob zeitgleich direkt eigene Gebietsansprüche in der Ägäis.
Was motiviert Erdogan, sich gerade jetzt in so vielen internationalen Konflikten auf einmal zu engagieren? Die angeblich zu lasche Haltung der nordeuropäischen Länder Schweden und Finnland gegenüber der kurdischen Bewegung scheint nur vorgeschoben. So hat Ankara keine Probleme damit, eng mit Russland zusammenzuarbeiten und dort gute Geschäfte zu tätigen, wo die PKK – anders als in den meisten europäischen Ländern – weder auf der Terrorliste steht noch aktiv bekämpft wird. Zuletzt war der russische Außenminister Sergej Lawrow zu Besuch in Ankara, um an einer Lösung für die Blockade ukrainischer Getreide-Exporte zu arbeiten. Ebenso gehen weder von Nordsyrien noch vom Nato-Partner Griechenland wirkliche Bedrohungen der »türkischen Sicherheitsinteressen« aus.
Viel wahrscheinlicher ist es, dass Erdogan die Streitigkeiten mit der Nato, den USA und auch Griechenland als Chance begreift, Wähler*innen im Inland auf seine Seite zu ziehen. In einem Jahr finden in der Türkei Präsidentschaftswahlen statt und die Prognosen sehen für ihn nicht gut aus. Somit sind die Gründe für Erdogans Säbelrasseln wohl eher in der Innenpolitik zu suchen.
Ein Blick in die Türkei verrät: Es läuft nicht gut im Land. Erdogans Geldpolitik mit künstlich niedrigen Zinsen führt zu einem massiven Preisverfall. Die Preise explodieren und die Bevölkerung leidet darunter. Die Inflation erreicht die 100 Prozent, ein Bankrott des Landes ist nicht ausgeschlossen. Ebenso scheint die Begeisterung für neue militärische Einsätze in der türkischen Bevölkerung nicht allzu groß zu sein. Die Folge: Erdogan und seine regierende AKP stecken ein Jahr vor der Wahl in einem Allzeitumfragetief. Die AKP liegt in den letzten Prognosen stets hinter der kemalistischen Oppositionspartei CHP. Und auch dem rechtsextremen Koalitionspartner Erdogans, der MHP, drohen empfindliche Stimmverluste. 2023 könnte somit das Jahr werden, in dem die Ära Erdogan endet.
Seine außenpolitischen Ränkespiele sollen von dieser innenpolitischen Misere ablenken, Stärke beweisen und vor allem im nationalistischen Lager Wählerstimmen mobilisieren. Dabei spielt Erdogan jedoch ein – insbesondere für ihn selbst – riskantes Spiel. Zwar kann es ihm relativ egal sein, was seine Nato-Partner von ihm denken. Stößt er sie jedoch zu sehr vor den Kopf, könnte dies massive ökonomische und politische Folgen haben – und dies ist nichts, was er im Wahlkampf brauchen könnte. Es bleibt somit abzuwarten, ob Erdogans diplomatische und militärische Drohungen die letzten Zuckungen eines angeschlagenen Autokraten sind, er tatsächlich noch zu einem (letzten) militärischen Schlag ausholen kann. Oder ob er doch noch in letzter Minute einlenkt.