Über einen Umweg zur Praxis

Das Frühwerk des Soziologen Pierre Bourdieu und seine aktuelle Bedeutung.
Erschienen in: neues deutschland vom 01.08.2020

In der universitären Soziologie gehört Pierre Bourdieu schon lange zum Kanon. Im Zentrum stehen meist seine Untersuchungen zu gesellschaftlichen Reproduktionsmechanismen wie beispielsweise dem Bildungssystem, das letztlich gesellschaftliche Ungleichheit eher bestätigt als aufhebt. In seinem Werk »Les héritiers« (Die Erben) von 1964 zeigte er, wie trotz der damals beginnenden Demokratisierung der französischen Schulen Mechanismen der kulturellen Reproduktion fortwirkten und nahezu ausschließlich Mitglieder der herrschenden Klasse wieder in herrschende Positionen gelangten. Dieser Fokus auf Klassengesellschaft sowie Reproduktion sozialer Ungleichheit ist nicht falsch, vergisst aber einen wesentlichen Aspekt der Soziologie Bourdieus, den sich dieser aus den Marx’schen Feuerbachthesen angeeignet hatte: die menschliche Praxis.

Diese spielt bereits in seinem meist etwas stiefmütterlich behandelten Frühwerk eine entscheidende Rolle. Nachdem der 1930 geborene Pierre Bourdieu seinen Abschluss in Philosophie erhalten hatte, lehrte er an einem Gymnasium in der Provinz. 1955 wurde er nach Algerien zum Militär eingezogen. Dort bekam er die Möglichkeit, seine ersten selbstständigen ethnologischen und später auch soziologischen Feldforschungen durchzuführen. Diese Zeit ist für seine intellektuelle Entwicklung kaum zu überschätzen. Bourdieu war entsetzt über die Brutalität des algerischen Unabhängigkeitskrieges. »Ich meinte, mich nicht damit zufriedengeben zu können, linke Zeitungen zu lesen oder Petitionen zu unterschreiben; dass ich vielmehr (…) etwas Reales tun müsse – und zwar als Wissenschaftler«, schrieb er später über seinen Militärdienst.

Die wissenschaftliche Arbeit in Algerien – weit weg vom Intellektuellenmilieu in Paris, in dem sich Bourdieu Zeit seines Lebens nicht wohlfühlte – bedeutete für ihn einen großen Befreiungsschlag. Er konnte forschen, ohne institutionelle Begrenzungen und ohne auf die intellektuellen »Trends« seiner Zeit Rücksicht nehmen zu müssen. »In Algerien war mir das alles plötzlich völlig egal«, sagte Bourdieu selbst über diese Zeit. In seiner Forschung wandte er sich zunehmend von der Philosophie ab. Stattdessen wurde die tatsächliche menschliche Praxis, »all das, was Menschen so tun«, in ihrer einfachsten Definition zum zentralen Punkt seiner Arbeit. Die Praxis sollte zum Prüfstein der Theorie werden.

Bourdieu entwickelte dabei seine wissenschaftlichen Konzepte und Theorien nicht vom Schreibtisch aus, sondern durch seine Feldforschung. Die praktischen und methodischen Grundlagen dafür eignete er sich weitgehend autodidaktisch an. Er ließ sich Bücher aus Frankreich schicken, übersetzte Max Weber, arbeitete an Fragebögen, sammelte algerische Sprichwörter und analysierte Haushalts- und Zeitbudgets. Ebenso fertigte er über dreitausend Fotos an, die er seinen Aufzeichnungen beifügte, führte Hunderte Interviews sowie eine repräsentative Erhebung durch. In dieser Hinwendung zur Empirie, und damit auch zur praktischen Involviertheit des Forschers in die Forschung, zeigte sich sein Misstrauen gegenüber der »reinen« Philosophie. Seine Konzepte – insbesondere der Habitus und die Unterscheidung sozialer Felder und der Formen von Kapital sollten Bourdieu berühmt machen – entwickelte er immer aus der Anschauung der gesellschaftlichen Realität heraus.

Die Erfahrung in Algerien

Er selbst sah seine Arbeit stets politisch und der Tradition der europäischen Aufklärung verpflichtet – mit der moralisch-politischen Notwendigkeit zur öffentlichen Einmischung. Er verstand es als seine Aufgabe, durch die Erforschung der konkreten gesellschaftlichen Praktiken in Algerien – das Heiratsverhalten, die Einstellung zur Arbeit oder das Verhältnis der Geschlechter – den kolonisierten Menschen selbst eine Stimme zu geben, ihren Blickwinkel einzunehmen und ein authentisches Bild jenseits der herrschenden Meinung in Frankreich zu vermitteln. Seine Arbeiten zu Algerien bilden eine Art Matrix seines Werks. Dort legte Bourdieu bereits die Grundlagen seiner »Theorie der Praxis«. Er selbst erklärte rückblickend, seine wesentlichen theoretischen Konzepte seien »sehr unmittelbar« aus der Erfahrung seiner ersten ethnographischen Forschungen in Algerien hervorgegangen.

Diese sind erst in den letzten Jahren wieder in den Fokus der Aufmerksamkeit gerückt. Bei Suhrkamp haben nun Franz Schultheis und Stephan Egger zwei neue Bände der Schriften-Reihe von Bourdieu herausgegeben, die dessen Arbeiten zu Algerien versammeln.

Auch an diesen beiden Bänden lässt sich erkennen, dass die algerische Erfahrung bei Bourdieu lange nachwirkte. Bereits in diesen frühen Schriften findet sich der Fokus auf menschliche Handlungen und Praktiken. Zwar ist der »späte Bourdieu« hier eher »angelegt« als schon »fertig«, wie Stephan Egger in seinem Nachwort zu »Tradition und Reproduktion« betont. Doch hier beginnt seine intellektuelle Reise, die sich über mehre Jahrzehnte erstrecken sollte. Von seinen folgenden Studien zur Bewertung der Fotografie als »mindere Kunst« über die bildenden Künste führte sie direkt in die moderne Klassengesellschaft und ihre »kulturellen« Verankerungen und somit in Bourdieus monumentales Hauptwerk »Die feinen Unterschiede«.

Eingreifende Wissenschaft

Die menschliche Praxis machte bereits bei dem italienischen Marxisten Antonio Labriola (1843-1904) den Kern kritischer Gesellschaftsanalyse aus. Bourdieu interessierte sich allerdings nie ausschließlich für die Möglichkeit, durch menschliches Handeln Gesellschaft verändern zu können; das zentrale Problem seiner Theorie der Praxis war die Frage, warum diese Praxis immer wieder gleichförmig und geregelt erscheint. Die Antwort darauf fand er im Habitus, der als Know-how des Körpers dessen Verhaltensweisen steuert und dazu führt, dass einem soziale Strukturen in Fleisch und Blut übergehen und so eine unhinterfragte und unhinterfragbare Selbstverständlichkeit bilden. Der Habitus ist so wirksam, da er jenseits bewusster Wahrnehmung existiert und Praktiken anleitet. Praxis, so Bourdieu, ist im Normalfall dabei kollektiv aufeinander abgestimmt, ohne dass dies aus der Befolgung von Regeln abgeleitet werden kann. Man kann sie nur durch einen genauen Blick auf gesellschaftliche Verhältnisse erkennen.

Die in Algerien erlernte Praxis der Anschauung führte bei Bourdieu selbst zu einem anderen Verständnis wissenschaftlicher Praxis. Seine Ablehnung gegen »Großtheorien« und fertige »Welterklärung« drückte sich in einer Forschung aus, die nach der Struktur menschlichen Handelns sucht, aus der sich nicht mechanisch ihre Superstruktur, ihr »Überbau«, wie Marx sagen würde, entwickelt. Bourdieu schrieb nicht gegen Strukturen an, sondern dagegen, ihnen ein Eigenleben jenseits der menschlichen Praktiken zuzusprechen. Dieser Gedanke erhält aktuell sowohl für wissenschaftliche Debatten als auch die politische Linke große Bedeutung.

Auf der einen Seite gibt es in der zeitgenössischen Soziologie mit der theoretischen Strömung der Praxistheorie Forscher*innen, die mehr oder weniger eng an Bourdieu anschließen, wie Theodore Schatzki, Karin Knorr-Cetina oder Elizabeth Shove. Mit Bourdieu liegt das Hauptaugenmerk der Praxistheorie auf der Körperlichkeit der Akteur*innen – einer Körperlichkeit, die der »praktischen Vernunft«, den Gewohnheiten und Routinen, die die Menschen zur Bewältigung ihres Alltags entwickeln, zugrunde liegt, wie etwa Konsumgewohnheiten oder Sport- und Freizeitpraktiken. Die Praxistheorie hat erkannt, dass die Körperlichkeit einen ganz fundamentalen Aspekt sozialer Beziehungen bildet und zur Strukturierung gesellschaftlicher Verhältnisse beiträgt. Zudem macht sie immer wieder anschaulich, dass die körperlichen Dispositionen historisch und kulturell geformt sind.

Dies ist zum anderen auch für die politische Linke relevant. Ein 2007 im Dietz-Verlag erschienener Sammelband »Bourdieu und die Linke« fokussierte sich auf die Bereiche Politik, Kultur und Ökonomie. Die Praxis spielte keine Rolle. Doch gerade diese – und die Erkenntnis, dass Bourdieus Gesellschaftsanalysen eben nie Kopfgeburten waren – könnte für die Linke spannend sein. Sein dialektisches und offenes Denken sperrt sich gegen vereinfachende Lösungen. Und er erinnerte immer wieder daran, was er als Aufgabe einer eingreifenden Wissenschaft ansah: Seine Parteinahme für die Unterdrückten und seine erkenntnistheoretischen Prämissen ziehen sich bis zum Ende seines Schaffens, was die von Bourdieu und seinen Mitarbeiter*innen 1993 durchgeführte Untersuchung »Das Elend der Welt« ebenso zeigt, wie seine Arbeit gegen den voranschreitenden Neoliberalismus in den letzten Lebensjahren. Pierre Bourdieu starb 2002 infolge einer Krebserkrankung. Am 1. August dieses Jahres wäre er 90 Jahre alt geworden.

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Pierre Bourdieu: Tradition und Reproduktion. Sowie: Habitus und Praxis. Schriften zur kollektiven Anthropologie 1 und 2. Herausgegeben von Franz Schultheis und Stephan Egger. Suhrkamp Verlag, 450 S., br., jeweils 28 €.