Erschienen auf Supernova
Es sind rund 15 Kilometer von der Kleinstadt Šid bis zur kroatischen Grenze. 15 Kilometer von Serbien in die Europäische Union, die das Ziel vieler in Šid Gestrandeter darstellt.
Vor allem Menschen aus Afghanistan und Syrien findet man hier, in einer Fabrikruine am Rande der Stadt, so Patrick Full. Er ist selbstorganisiert Ende Januar mit Freund*innen nach Šid gekommen, um dort Klamotten- und Geldspenden abzugeben. Die Reise dauerte eine knappe Woche, der alte Bus blieb vor München liegen. Geschafft haben sie es am Ende doch. Inspiriert wurden sie durch die NGO »No Name Kitchen«, so Full im Gespräch. Diese NGO ist in mehreren Grenzregionen im gesamten Balkan aktiv und versucht dort eine existentielle Versorgung für Geflüchtete aufzubauen.
Leonie Neumann ist seit November 2019 in Šid und Teil des jungen Teams von Helfer*innen. Zweimal täglich unterstützt sie geflüchtete Menschen, die um das Gebäude herum leben, mit Wasser, Lebensmitteln, Medikamenten und Kleidung und vielem anderem. Am 1. Februar wurde diese Hilfe plötzlich zur Gefahr für Leib und Leben der Helfer*innen.
Leonie berichtet: »Als sie um 9 Uhr ankamen, stand immer noch ein Zelt im Gebüsch in der Nähe des Gebäudes. Sie gaben uns ein Ultimatum von fünf Minuten, um das Zelt und die Gegenstände darin zusammenzupacken. Meine Kollegin Marina war im Zelt, als einer der Arbeiter anfing, Benzin über das Zelt zu gießen.« Darauf hin folgte ein Handgemenge mit den aggressiven Arbeitern, bei dem zwar verhindert werden konnte, dass das Zelt und mit ihr die Freiwillige selbst angezündet wurde, jedoch wurden die beteiligten Freiwilligen geschlagen und ihr Handy zerstört. Während die Helfer*innen noch die restlichen Habseligkeiten aufsammelten, wurde die direkt neben dem Zelt liegende Plastikplane in Brand gesetzt. »Es war pures Glück, dass dabei niemand ernsthaft verletzt wurde«, so Leonie. »Es bestand durchaus Lebensgefahr.«
Die Situation der Geflüchteten vor Ort ist seit jeher dramatisch. Rund 50 Menschen leben derzeit auf dem Gelände der verlassenen Fabrik Grafosrem, genannt der »Squat«. Regelmäßig kommt die Polizei und nimmt – immer wenn es zu viele werden – Menschen mit. Knapp 300 Menschen haben hier gehaust bis zu einer Räumung des Geländes am 22. November 2019 durch die Polizei. Seitdem ist das Schlafen im Gebäude selbst nicht mehr sicher. Die meisten Menschen schlafen in Zelten, die im Gebüsch rund um das Fabrikgebäude versteckt sind.Die Tschetnik waren während des Zweiten Weltkriegs faschistische Milizen, die mit den Nazis kooperierten.
Wer die Arbeiter überhaupt geschickt hat, ist unklar. Die Besitzverhältnisse der leerstehenden Fabrik sind nicht geklärt, jedoch scheint es ein enges Geflecht zwischen Polizei, Arbeitern und und Gemeindevertretern zu geben. Nach den Übergriffen auf die Freiwilligen begrüßte der hinzugekommene stellvertretende Bürgermeister Šids, Zoran Semenovic, sowohl die Polizei als auch die Arbeiter. Dabei ist besonders brisant, dass sowohl an einem Auto, mit dem die Arbeiter angekommen waren als auch an der Mütze eines beteiligter Arbeiter das Abzeichen der Tschetnik sichtbar war, so Leonie. Dieses wurde auch neben der serbischen Flagge auch im Fabrikgelände angebracht. Die Tschetnik waren während des Zweiten Weltkriegs faschistische Milizen, die mit den Nazis kooperierten. Sowohl für die Helfer*innen als auch für die Geflüchteten war es nicht die erste Begegnung mit Rechtsextremen, einen so gewalttätigen Zusammenstoß gab es jedoch noch nie.
Doch endete die Odyssee der Helfer*innen mit dem Eintreffen der Polizei nicht. Im Gegenteil. Sie wurden in Gewahrsam genommen, gingen jedoch zu Beginn auch wegen eines freundlich gesinnten Polizisten davon aus, dass sie als Zeug*innen aussagen sollten. Doch nach fünf Stunden in der Polizeistation wurden einer Richterin vorgeführt: als Angeklagte. Ihnen wurde vorgeworfen, selbst die öffentliche Ordnung gestört zu haben. Während des Schnellverfahrens wurde den drei Angeklagten – unter ihnen Leonie, eine weitere Deutsche und ein Italiener – nie die Gelegenheit gegeben, selbst eine offizielle Aussage zu machen. Wie auch in all der Konfusion? Leonie lacht bitter. »Das war alles auf kyrillisch. Es wurde alles eher schlecht als recht übersetzt und am Ende hatten wir gar keine Ahnung mehr, was wir alles unterschrieben hatten.«
Für Patrick, der mit seinen Freund*innen von außen die Situation
begleitete, ist klar, dass es nie um einen fairen Prozess ging, sondern
um die Kriminalisierung der freiwilligen Helfer*innen. So wurden zwei
der drei angeklagten Helfer*innen dann auch für schuldig befunden, die
öffentliche Ordnung gestört zu haben und vor die Wahl gestellt, 20 Tage
im Gefängnis zu verbringen oder 20000 serbische Dinar zu zahlen –
umgerechnet knapp 200 Euro. Ebenso sollten sie das Land verlassen. Nach
der Urteilsverkündung unterstützten Kolleg*innen die Freiwilligen, um
die Strafe bezahlen zu können.
Am nächsten Tag veröffentlichte der lokale Fernsehsender Sremska TV
einen Bericht darüber, dass die Freiwilligen die serbischen Arbeiter auf
dem Gelände von Grafosrem angegriffen hätten. Eine Anfrage an die Stadt
Sid zu den Vorkommnissen bleibt unbeantwortet. All das ist eine
»Farce«, so Leonie. »Erst werden wir von Rechtsextremen angegriffen und
dann werden wir angeklagt.« In einem Prozess ohne Anwälte, ohne
zugelassene Zeugenaussagen für die Angeklagten und ohne ausreichende
Übersetzung. Zwar wurde eine Helferin freigesprochen, aber auch sie
solle das Land verlassen.
Es scheint hier also darum zu gehen, praktische solidarische Arbeit mit Geflüchteten unmöglich zu machen. »Die Ereignisse dieses Tages sind nur eine weitere Stufe, die auf vorhergegangene Übergriffe auf die Geflüchteten und die Helfer*innen verweist. Die erneute Eskalation zeigt, wie akut die Menschenrechte der Geflüchteten und die der Mitarbeiter*innen humanitärer Hilfsprojekte bedroht sind« so Patrick.Solche Pushbacks sind nicht lega
Zu ähnlichen Einschätzungen kommen auch Mediziner*innen von »Ärzte ohne Grenzen«, die ebenfalls vor Ort sind. Sie berichten von Misshandlungen und Verletzungen, die geflüchtete Menschen im Grenzgebiet erfahren müssen – auch durch sogenannte »Pushbacks«, also das Zurückdrängen von Geflüchteten über die Grenze durch die kroatische Polizei – jenes Land, das gerade die EU-Ratspräsidentschaft innehat. Cornelia Ernst sitzt für die LINKE im Europäischen Parlament und war vor Kurzem vor Ort, um sich selbst ein Bild zu machen. Im Gespräch mit dem »neuen deutschland« sagt sie: »Bekannt ist auch, dass die Pushbacks an der bosnisch-kroatischen Grenze zu den schlimmsten in der EU gehören und dabei massive Menschenrechtsverletzungen stattfinden«. Solche Pushbacks sind nicht legal und nicht mit der Genfer Flüchtlingskonvention vereinbar. Geflüchtete seien durch kroatische Grenzbeamte in den Grenzfluss gestoßen wurden, »im Winter« ergänzt Ernst. Einschüchtern lassen wollen sich die Helfer*innen davon jedoch nicht und wollen ihre Arbeit vor Ort weitermachen. Ein Anwalt klagt gerade gegen ihre Ausweisung, sie sind zuversichtlich.
Einige Tage darauf dann eine resignierte Nachricht von Leonie: »Es kam so weit, wir mussten das Land verlassen. Uns widerstrebt der Gedanke, ausreisen zu müssen so sehr, dass wir ein bisschen daran verzweifeln.« Ist dies nun die Bestätigung dafür, wie leicht es ist, unliebsame Freiwillige loszuwerden, indem man widerrechtliches Verhalten erfindet, Gemeinde, Polizei und Gericht mit ins Boot holt und dir Ausreise anordnet? Die staatliche Gewalt scheint in diesem Fall fürs Erste gewonnen zu haben. Seit ihrer unfreiwilligen Ausreise scheint sich die Situation noch verschärft zu haben. So wurden von der Polizei im Beisein der Rechtsextremisten Schlafsäcke, Kleidung und persönliche Dingen von Geflüchteten verbrannt. Winter is coming.