Spiel und Arbeit galten lange als Gegensatz – heute verschwimmt diese Grenze.
Erschinen in: Neues Deutschland vom 22.12.2019
In Mark Twains »Abenteuer von Tom Sawyer und Huckleberry Finn« gibt es diese Episode mit dem Gartenzaun. Das Schlitzohr Tom hat mal wieder Unfug angestellt und sich geprügelt. Mit zerrissenem Hemd tritt er unter die strengen Augen von Tante Polly. Diese verdonnert ihn dazu, ihren Zaun zu streichen. Jedes Mal, wenn nun ein Junge vorbeikommt, um den Bestraften zu verhöhnen, erklärt er ihnen mit ernster Miene, wie schwierig es sei, die Kalkfarbe richtig aufzubringen. Neugierig fangen die anderen Jungen an, das selbst auszuprobieren. Tom überzeugt sie, dass es eine Ehre sei, das übernehmen zu dürfen – und lässt sich am Ende sogar dafür bezahlen, dass ihm andere die Arbeit abnehmen: Schließlich mache das Anstreichen solchen Spaß!
Jüngst ruft sich diese Geschichte vom Geschäftsmann im Lausbub in
Erinnerung. Als »Gamification« – »Spielwerdung« oder »Verspielung« –
firmiert zumal in der Internetwirtschaft ein Trend, der ganz ähnlich die
Grenzen von Spiel und Arbeit verwischt. Dabei wird umgekehrt der
Lausbub in den Geschäftsmann eingebaut. Ganz in diesem Sinn definiert
der Unternehmer Markus Breuer Gamification als »die Verwendung von
spieltypischen Mechaniken außerhalb reiner Spiele, mit dem Ziel, das
Verhalten von Menschen zu beeinflussen«.
Kreativer als Routine
Solche Strategien kommen vor allem zum Einsatz, wo Aufgaben als komplex, unattraktiv oder langweilig gelten. Die Spielelemente sollen hier Ehrgeiz wecken und Hingabe erzeugen. Gerade in den Debatten um die »Industrie 4.0« ist Gamification prominent: Wenn Maschinen immer mehr alleine können und Menschen nur noch vereinzelt auf – freilich die richtigen – Knöpfe drücken, ist es sehr wichtig, sie wach und bei produktiv nutzbarer Laune zu halten. So versucht man gerade in der digitalen Arbeitswelt, über Spielelemente wie – spielerischen – Wettkampf und allerlei Punktesysteme eine Art von Ablenkung zu schaffen, die aber nicht zu einer Abwendung von der anstehenden Arbeit führt: »Spielelemente werden heute von Unternehmen systematisch zur Leistungssteigerung eingesetzt«, fasst das die Beraterin und Publizistin Nora Stampfl zusammen. Langfristig sollen so Durchhaltevermögen und Motivation gestärkt werden. Nicht mehr der autoritäre Zwang dient dann den Interessen der Unternehmen gegenüber den Beschäftigten, sondern das scheinbar zwanglose Spiel.
Schon 2011 listete das Oxford-Wörterbuch »Gamification« als ein Wort des Jahres. Seither hat das Phänomen noch an Bedeutung gewonnen, nicht nur in der Arbeitsoptimierung, sondern zu vielfältigen werbeverwandten Zwecken. Heute glauben die meisten Institutionen und Unternehmen, dass sich solche Techniken lohnen. Facebook bietet etwa Spiele wie »Farmville« – bei dem man einen Bauerhof aufbaut und führt – oder das Puzzlespiel »Candy Crush« an. Diese Spiele vertreiben nicht nur Zeit, sondern fördern den Wettbewerb unter den Spielenden. Mit der App »Foursquare« kann man an bekannten, etwa touristischen, Orten »einchecken«. Dabei gibt man seinen Aufenthaltsort bekannt – und sammelt Punkte, um zum »Super User« aufzusteigen. Selbst die Buchhandelskette Hugendubel nutzte schon solche Spielelemente, um Kundschaft zu mobilisieren. Die Kampagne »Bookbuster« lud dazu ein, sein Wissen rund um aktuelle Bücher zu testen und zu heben. Die Marketingchefin von Hugendubel, Sarah Gries, nennt diese Kampagne einen »vollen Erfolg«.
Ganz neu ist der Verspielungsansatz natürlich nicht. Unternehmen nutzen schon lange unterhaltsame, in weiterem Sinn wettbewerbsartige Elemente, um Kundschaft zu binden. Schon in den 1920ern Jahren waren Zigarrenschachteln Sammelbildchen beigelegt. In der Verhaltenstherapie setzte man ab den 1960er Jahren auf die »Token Economy« – ein ausgeklügeltes System gezielter Belohnungen sollte erwünschte Verhaltensweisen aufzubauen helfen. »Wenn man so will, gab es Gamification also bereits damals in psychiatrischen Anstalten, Heimen für dissoziale Jugendliche und Gefängnissen«, schreibt Nora Stampfl. Es folgten die guten alten Rabattmarken, die Meilenprogramme von Fluglinien – all das sind ja Mechanismen aus der Welt des Spiels: Das Punktesammeln soll zum Erklimmen höherer »Levels« und damit verbundenen Privilegien animieren.
Doch nachvollziehbar hat diese gesellschaftliche Verspielung mit der Verbreitung digitaler Endgeräte selbst ein neues Level erreicht. So spielt man nicht mehr nur zu Hause am PC, sondern nahezu überall. Smartphones, Digitalkamera, Sensoren und das allgegenwärtige Internet transportieren solche Spielelemente immer tiefer in den Alltag. Das lässt das Spiel und Spielen nicht nur an Bedeutung gewinnen – sondern verändert es auch grundlegend.
Auf den ersten Blick scheint Spiel das Gegenteil von Arbeit zu sein. Doch fällt die Definition gar nicht so leicht. Der niederländische Kulturhistoriker Johan Huizinga versuchte sich bereits 1938 daran. Das Spiel sei eine »freiwillige Handlung oder Beschäftigung, die innerhalb gewisser festgesetzter Grenzen von Zeit und Raum nach freiwillig angenommenen, aber unbedingt bindenden Regeln verrichtet wird, ihr Ziel in sich selbst hat und begleitet wird von einem Gefühl der Spannung und Freude«. Das Spiel, so meinte er, fördere Subjektivität und Ausdrucksmöglichkeiten. Es sei eine Praxis, die sich durch Offenheit und Pluralität der Handlungsmöglichkeiten auszeichne und – ähnlich wie Kunstwerke – eine eigengesetzliche Erfahrung ermögliche.
Prinzipien wie Freiwilligkeit und unmittelbare Erfahrung stehen der von Zwang und Entfremdung geprägten kapitalistischen Lohnarbeit zunächst diametral gegenüber. So sang schon Friedrich Schiller in seinen Briefen »Über die ästhetische Erziehung des Menschen« das Lob des Spiels: Es sei diejenige menschliche Leistung, die allein eine Ganzheitlichkeit der menschlichen Fähigkeiten hervorbringe. Heute aber verschwimmt dieser Gegensatz von Spiel und Arbeit zusehends. Die alte, bürokratische Industriegesellschaft wollte ihre Menschen als Maschinen. Sie verlangte nur ganz bestimmte Fähigkeiten und Handgriffe, man denke an Charlie Chaplins Parodie der Fließbandarbeit. Heute aber will die Arbeitswelt viel mehr, zumindest in den »Zukunftsbranchen«. Gerade das, was früher tunlichst zu Hause zu lassen war, ist heute mitunter im Job gefragt: Subjektivität, Kreativität und Spontaneität. Und abrufen lässt sich all das über spielartige Abläufe. »Mit dem Spielerischen haben Unternehmen ein Instrument zur Hand, das es ermöglicht, die gesamte Persönlichkeit der Mitarbeiter für den Arbeitsprozess nutzbar zu machen«, resümiert Nora Stampfl. Heute soll sich das Subjekt umfassend in die Arbeit »einbringen«.
All das zeigt, welche Widersprüchlichkeiten Gamification zu versöhnen sucht. Man soll kreativ sein – aber nur innerhalb von Marktnorm und Firmenstrategie. Man soll sich »verwirklichen« und Spaß bei der Arbeit haben – aber nur, solange das dem Mehrwert dient. Man soll produktiv und engagiert arbeiten und zugleich noch Zeit finden, eine Familie zu gründen, sich in Yoga zu üben und kulturell weiterzubilden. Unter dem Schlagwort der »Work-Life-Balance« ist man angehalten, diese teils konträren Anforderungen unermüdlich zu versöhnen – weil aus dieser Sicht ein erfülltes Privatleben die Arbeitskraft Einzelner erhöht und daher als Ressource angesehen wird.
Nebenbei generieren solche spielerischen Angebote vieler unternehmen ernorme Datensammlung, die sich als Nebenprodukt wiederum ausbeuten lässt, etwa für Werbezwecke. Darüber hinaus bieten sich vielfältige Ansätze für Verhaltensbeeinflussung. So birgt Gamification die Gefahr, dass Menschen nicht mehr selbstbestimmt agieren, weil sie nicht einmal mehr erkennen, wann sie spielen und wann nicht.
Erosion des Privaten
Im Kontext der Lohnarbeit sind die Rollen jedoch relativ eindeutig. Für Lohnabhängige hat das Scheitern beim spielerischen Finden von Problemlösungsstrategien ganz reale Auswirkungen. Das Spiel wird schnell ernst, weil es nur so weit reicht, wie es ökonomische Interessen nicht behindert, sondern fördert.
Schleichend verschwimmen die Grenzen zwischen Privatheit und Öffentlichkeit, zwischen Lohnarbeit und Freizeit, wenn Formen von Freizeitverhalten im Job gefragt sind. Dort bewirkt das Eindringen von Spaß und Unterhaltung ein Verhalten, das früher als infantil gegolten hätte: Mitteilungsdrang, Zeigestolz hinsichtlich der eigenen Resultate, der Hang, seinen Spielbedürfnissen stets nachzugehen. Gamification ist die Perfektion der Verwertung dessen und steht symptomatisch für eine Gesellschaft, die alles – sogar das Spiel – für Profit aufsaugt.
Stets einen Schub nimmt diese Tendenz zum Gabenfest am Jahresende, denn gerade elektronisches Spielgerät steht weit oben auf den Wunschzetteln. Wer nun beim Schenken »bewusst« sein möchte, kann einerseits das Klischee verabschieden, dieses mache »stumpf« und alltagsuntauglich: Denn wird Arbeit dergestalt verspielt, ist das oft verpönte Daddeln geradezu berufsvorbereitend. Wer aber jener Grenzverwischung entgegenwirken will, die gerade darin wirksam wird, kann per Geschenk auch weiter jene Kulturtechnik fördern, die selbst in aller Öffentlichkeit noch Privatheit schafft: Statt zu Apparaturen, die nolens volens das Tom-Sawyer-Prinzip befördern, lässt sich in diesem Sinn etwa zu Tom Sawyer selbst greifen: zu Mark Twains zeitloser, wunderbarer Geschichte von dem Kind, das bei all seiner smarten Gewitztheit doch immer zuerst und zuletzt ein Lausbub bleibt.