Zwei neue Bücher bieten Innenansichten der Gelbwesten-Bewegung.
Erschienen in: Der Freitag 41/19
Von wegen überschrittener Zenit! In den letzten Wochen kam es in Frankreich wieder verstärkt zu Aktionen der „Gelbwesten“. Am Rande einer Kundgebung von etwa 1.000 Demonstrant*innen in Toulouse setzte die Polizei Tränengas und Wasserwerfer ein. In Montpellier wurden nach den Zusammenstößen mehrere Menschen festgenommen.
Scheinbar aus dem Nichts begann die Bewegung, an der sich vor allem zwischen November 2018 und Frühjahr 2019 Hunderttausende Französ*innen beteiligten. Gestartet als Protest gegen die Benzinsteuer, wurde die Bewegung mit dem gelben Kleidungsstück zu einer Sammlungsbewegung von unten, die sich mehr und mehr gegen das gesamte politische System richtete.
Sie ist Ausdruck der Krise des neoliberalen Kapitalismus, die sich in Verarmung und zunehmender Prekarisierung weiter Bevölkerungsschichten ausdrückt. All die Teilzeitbeschäftigten, Alleinerziehenden, Sozialhilfeempfänger*innen oder Arbeitslosen sind die Leidtragenden der Entwicklungen der letzten Jahre. Und genau jene „Normalos“ organisierten sich in Frankreich, trafen sich binnen kürzester Zeit an Autobahnauffahrten, Kreuzungen und Mautstellen, diskutierten, blockierten und verständigten sich.
Blockierter Alltag
Gerade die Forderung nach Steuersenkungen war von den Parolen und Floskeln der politischen Linken weit entfernt. Von Beginn an zeigte sich eine seltsame Entfremdung zwischen der Linken und jenem „Volk“, den Unterdrückten, für deren Befreiung sie jahraus, jahrein vorgab zu kämpfen. Dabei sahen Gewerkschaften und Linke zusehends dünkelhaft von oben auf die Bewegung der Subalternen herab und grenzten sich bewusst ab: zu sexistisch, zu populistisch, zu gewalttätig.
Mit dieser Abkoppelung der politischen Linken von den „classes populaires“ beschäftigten sich die beiden aktuellen Bücher von Luisa Michael und Peter Wahl. Michael, die seit zwanzig Jahren im Pariser Stadtteil Belleville lebt, schildert ihre Erfahrungen mit und zunehmend in der Bewegung. Mit skeptischer Neugierde hat sie sich ihr angenähert, hat hingesehen und hingehört – und schließlich selbst die gelbe Warnweste übergestreift. Ihr Buch Wir sollten uns vertrauen. Der Aufstand in gelben Westen ist ein subjektiver Erfahrungsbericht, eine Art Bewegungs-Tagebuch, bei dem auch Aktivist*innen selbst zu Wort kommen.
Auch Peter Wahl, Gründungsmitglied der globalisierungskritischen NGO Attac, präsentiert mit Gilets Jaunes. Anatomie einer ungewöhnlichen sozialen Bewegung, eine Innenansicht. Die Texte, die sich mit so unterschiedlichen Themen wie Aktionsformen oder Demokratieverständnis beschäftigen, sind größtenteils in Frankreich entstanden. Ihnen beigestellt sind ein halbes Dutzend Original-Dokumente. Damit ermöglicht das Buch einen einführenden Überblick über die Bewegung. In beiden Büchern wird das radikal Neue der Bewegung thematisiert. Paris ist nicht das Zentrum des Aufstands, die Stadt ist lediglich Schauplatz der Revolte, die in sie hineingetragen wurde. Die Akteure kommen aus den Provinzen, kämpfen müssen sie sowieso. Und höhere Kraftstoffpreise sind für sie ein genuines Bedrängnis.
Von entscheidender Bedeutung für die Gelbwesten sind die Kreisverkehre. Sie wurden zu lebendigen Orten inmitten der toten kapitalistischen Zirkulation. „Was wir blockieren, ist unser alltägliches Leben: die Landstraßen, die Nationalstraßen, die Einkaufszentren und Industriegebiete“, so zitiert Michael eine Gelbweste. Die Aktionen der Gelbwesten haben etwas Spontanes, Experimentelles, Unberechenbares. Regelverletzungen generieren Glaubwürdigkeit.
Bewohner*innen dünn besiedelter ländlicher Gebiete besetzen Mautstellen und Kreisverkehre, Arbeiter*innen protestieren gegen die Arbeitsbedingungen und Schüler*innen gegen Macrons Reform des Bildungssystems. „Sie treten aus ihren jeweiligen eigenen alltäglichen Abläufen heraus, lernen andere Menschen kennen, die sie sonst nie kennengelernt hätten. Sie besprechen mit ihnen ganz grundsätzliche Fragen, die sie sich selber noch gar nicht beantwortet haben. Sie hören einander zu. Sie erleben, dass sie zusammen klüger und weniger ohnmächtig sind“, so fasst es Michael zusammen.
Leben, nicht überleben
Was die beiden Bücher mit Nachdruck aufzeigen: Die Protestler eint nicht nur das gelbe Kleidungsstück, sondern die Erkenntnis, zusammenarbeiten zu können, ohne auf bestehende Organisationsmodelle zurückgreifen zu müssen. Der Aufstand der Gelbwesten ist „wild“ und „unrein“ – ohne Kontrolle oder Organisation durch die Gewerkschaften und Parteien. Somit verweigern sich die Gelbwesten nicht nur einem Dialog mit der Staatsmacht, sie beharren auf ihrem Recht auf autonome politische Meinungsäußerung. Dabei werden ihre Themen (Missstände der zu hohen Preise für Treibstoff und Mieten oder unzureichende Löhne und Rente) sichtbar.
Wo sind die Fehler der politischen Linken? In den Büchern findet man die Ansicht, dass sie sich zu wenig oder zu abgehoben mit den neuen Formen und Inhalten der Bewegung auseinandersetzen. Rassistische oder antisemitische Vorfälle bei Demonstrationen und Aktionen müssen klar benannt werden, doch Hybris sei der falsche Weg. Die meisten Aufständischen hegen den Wunsch, aus dem Prekariat und der sozialen Abstiegszone herauszukommen. „Leben, nicht überleben“, so schrieb es ein Mann auf seine Weste. Mit einer solchen Bewegung kann die politische Linke nur solidarisch sein.
Info
Wir sollten uns vertrauen. Der Aufstand in gelben Westen Luisa Michael Nautilus 2019, 240 S., 16 €
Gilets Jaunes. Anatomie einer ungewöhnlichen sozialen Bewegung Peter Wahl (Hg.) PapyRossa 2019, 135 S., 12 €