Eine Rezension zu Franz Schultheis‘ „Unternehmen Bourdieu“. Erschienen auf: Soziologieblog vom 22.04.2019
So oder so ist das Ende eines Schuljahres aufregend für die Schüler*innen, denn die Lehrkräfte verteilen die Zeugnisse. Die einen freuen sich darauf, da sie wissen, gute Noten bekommen zu werden, für die anderen bedeutet dies die bange Sorge, ob die Versetzung gefährdet ist oder ob man es doch gerade noch so geschafft hat.
Unüblich ist nun der umgekehrte Weg, nämlich der, dass ein Schüler seinem Lehrer ein Zeugnis ausstellt. Der deutsche Soziologe Franz Schultheis, der an der Zeppelin-Universität Friedrichshafen lehrt, hat dies in gewisser Weise mit seinem aktuellen Buch „Unternehmen Bourdieu. Ein Erfahrungsbericht“ unternommen. In dem dünnen bei transcript erschienenen Bändchen dreht sich alles um Schultheis` Mentor: den französischen Soziologen Pierre Bourdieu, bei dem sich Schultheis 1994 habilitierte.
Vorweg sei verraten: die Zensuren, die Bourdieu erhält sind, trotz einiger Einschränkungen, durchweg positiv. Doch von vorne. Schultheis war im deutschen Sprachraum maßgeblich an der Verbreitung der Bourdieu´schen Soziologie beteiligt. Einer größeren Öffentlichkeit wurde er als Herausgeber des Buches „Gesellschaft mit begrenzter Haftung“ (Schultheis 2005) bekannt, das sich methodisch an der von Bourdieu herausgegebene Studie „Das Elend der Welt“ (Bourdieu 1997) anlehnte. Seit 1995 ist Schultheis auch Präsident der „Stiftung Pierre Bourdieu“. Dass er sich als legitime Interpretationsmacht des Werkes Bourdieus versteht, macht er direkt in der zweiten Fußnote seines aktuellen Buches deutlich. Dort begründet er die Notwendigkeit des Buches mit der „verkürzte[n] Rezeption“ (S. 11, Fn. 2) im sich „ulitmativ gebende[n] ‚Bourdieu-Handbuch’“ (S. 10, Fn. 2), dass Gerhard Fröhlich und Boike Rehbein (Fröhlich/Rehbein 2009) herausgegeben haben.
Schultheis will das ‚Phänomen Bourdieu’ in einem neuen Licht betrachten. Seine langjährige und enge Zusammenarbeit mit Bourdieu will Schultheis nutzen, um eine neue Perspektive zu eröffnen. Anspruch des Buches ist es, die „spezifische Praxis Bourdieu`schen Forschens, Vermittelns und Wirkens in den Blick“ (S. 9) zu nehmen. Dabei geht es vor allem um die ganz konkrete Forschungs- und Alltagspraxis am Centre des Sogiologie Européenne in Paris (vgl. S. 13) in den Jahren von 1987 bis zu Bourdieus Tod 2002. Anders als in geläufigen Portraits oder regulären Biographien nimmt Schultheis` Buch dabei den Charakter einer ‚Ethnographie’ an – er berichtet als „Teilnehmer und Beobachter“ (S. 15) aus dem Umfeld Bourdieus; ein ‚Erfahrungsbericht’, wie es im Untertitel heißt.
Bourdieus Idealbild ist das eines „internationalen kollektiven Intellektuellen“ (S. 14). Er selbst sieht sich als „Chef einer ‚Denkfabrik’“ (ebd.). Ziel ist die Untermauerung der These, dass das Bourdieu´sche Werk nur als Kollektivanstrengung zwischen ihm, Bourdieu, und den zahlreichen Mitarbeiter*innen, jenen kritischen „Dissidenten des etablierten Mainstream der französischen Soziologie“ (S. 10), zu bestimmen sei. Schultheis bemüht das Bild eines Dirigenten (vgl. S. 33), der sein Ensemble brauche, um erfolgreich sein zu können.
Diese Form der kollektiven Arbeit wird nun an verschiedenen Projekten, an denen Bourdieu und Schultheis beteiligt waren, vorgestellt. Schultheis beginnt mit der Beschreibung während der Arbeit am Buchprojekt Das Elend der Welt. Hier erfährt man, dass diese Forschung „von Anfang an politisch motiviert“ (S. 30) gewesen sei, man begleitet Bourdieu und seine Gruppe, wie sie die Texte „im Kollektiv ausführlich und kritisch“ (ebd.) diskutieren, wie aus der „Collage an Einzelstudien“ eine „kohärente Zusammenschau (…) umrahmt von einigen theoretischen Essays“ (S. 31) entsteht und sich dadurch „im praktischen Vollzug nach und nach eine kollektive geteilte Haltung und Perspektive“ (S. 33) bildet.
Weiter geht es mit der Zeitschrift Actes de la recherche en sciences sociales, die bereits 1975 gegründet wurden war und einen „ganz wesentlich Anteil an der Entwicklung sozialwissenschaftlicher Reflexivität in Bourdieus Werk“ (S. 50) hatte, da sie eine „Art Corporate Identity als Teil eines Kollektivs an kritisch-reflexiven Sozialwissenschaftlern“ (S. 54) erschaffen habe.
Es folgt das Projekt Liber – Europäische Buchrevue von 1989, das versuchte „einen autonomen transnationalen Raum für die freie Zirkulation kultureller und intellektueller Güter zu schaffen“ (S. 57) und dabei mit europäischen Medien wie der FAZ, Le Monde, El Pais sowie Indice kooperierte sowie die Schriftenreihe Raison D´agir von 1996, die „intellektuelle Waffen und Instrumente kritischer Argumentation für eine breite Leserschaft“ (S. 68) zugänglich machen sollte.
Zum Schluss wird Bourdieu noch als öffentlicher Intellektueller präsentiert, der durch zahlreiche internationale Vorträge, Konferenzen und Petitionen in eine europäische Sammlungsbewegung gegen die neoliberalen Politiken auch praktisch wirken wollte. Kurz vor Bourdieus Tod beschriebt Schultheis noch die Arbeit am Projekt Für einen europäischen Raum der Sozialwissenschaften. Diesem Netzwerk hatten sich mehr als 120 Forscher*innen aus 14 Ländern angeschlossen, um die „Möglichkeitsbedingungen und Barrieren der transnationalen Zirkulation kultureller Güter“ (S. 93) zu erforschen.
Gespickt ist diese Beschreibung der Projekte durch Anekdoten, die Schultheis freimütig im Buch verstreut. So erfährt man, dass Bourdieu wegen seiner Initialen während seiner kurzen Zeit als Gymnasiallehrer von seinen Schüler*innen „Pablo“ genannt wurde und dass Schultheis für einen Antrag „bis drei Uhr morgens ohne Unterbrechung“ (S. 37) zusammen mit Bourdieu gearbeitet habe. Auch die Sorgen und Ängste Bourdieus, die bereits meisterhaft im Film „Soziologie ist ein Kampfsport“ (Bourdieu 2009) gezeigt wurden, kommen im Buch zur Sprache. So beschreibt Schultheis Bourdieus Nervosität vor öffentlichen Auftritten, die sich in „psychische[r] Anspannung, aber auch [durch] enorme kognitive Dissonanzen“ (S. 23) gezeigt haben. Ebenso erzählt er davon, wie sich Bourdieu manchmal nach Vorlesungen „durch die Hintertür davonstahl“ (S. 39) um mit Studierenden ein Glas Wein zu trinken, während die ‚Honoratioren’ vorne auf ihn warteten. Mit solchen Geschichten wird Bourdieu den Leser*innen näher gebracht. Manchmal wirkt dies aber auch etwas anbiedernd, wenn Schultheis schreibt, wie Bourdieu ihm „private Angelegenheiten“ (S. 15) erzählen konnte, „die er den Pariser Kollegen niemals so freimütig hätte weitergeben können“ (ebd.). Der Erkenntnisgewinn solcher Aussagen hält sich in Grenzen und scheint nur dazu zu dienen, Schultheis` besonders enge Beziehung zu Bourdieu zu untermauern. Dazu kommen noch nun wirklich an ein Schulzeugnis erinnernde Formierungen, wie dem „enormen Einsatz Bourdieus für die Sache“ (S. 66) sowie der Aussage, dass dieser „stets hilfsbereit“ (S. 40) gewesen sei.
Aber wie steht es nun schlussendlich um die Bewertung Bourdieus? Welche Noten gibt ihm Schultheis? Er ist weit von einem ‚Vatermord’ entfernt, auch wenn kritische Töne durchaus vorkommen. Bei Liber sei „von Anfang an Sand im Getriebe“ (S. 62) und auch beim Projekt Für einen Raum der europäischen Sozialwissenschaften sei die „Bilanz eher bescheiden“ (S. 95) gewesen. Nun dürfe dies jedoch nicht als „vermeintliche[s] Scheitern seines Projekts der ‚kollektiven Intellektuellen’“ (S. 101) verstanden werden. Die Zeitschrift Actes de la recherche en sciences sociales gebe es heute noch und die Zusammenarbeit mit Bourdieu habe bei allen beteiligten Forscher*innen „dauerhafte Prägungen“ (ebd.) hinterlassen.
Schultheis gelingt es, die „Alltagspraxis Bourdieu als engagierten Intellektuellen einzufangen“ (S. 82), für den „nur ein Kollektiv politisch engagierter WissenschaftlerInnen (…) eine zeitgemässe Organisationsform für intellektuelles Engagement darstellen konnte“ (S. 68). Darüber hinaus sagt dieses Zeugnis, dass der Schüler dem Lehrer gibt, mehr über ersteren und dessen Vorstellung seines als legitim angesehenen Erbes der Bourdieu´schen Soziologie aus als über Bourdieu selbst.
Literatur und Quellen
Bourdieu, Pierre (1997[1993]): Das Elend der Welt. Konstanz: UVK.
Bourdieu, Pierre (2009): Soziologie ist ein Kampfsport. DVD mit einem Kommentar von Jakob Schrenk. Französische Originalfassung mit deutschen Untertiteln. Suhrkamp.
Fröhlich, Gerhard/Rehbein, Boike (2014): Bourdieu-Handbuch. Leben – Werk – Wirkung. Stuttgart: J. B.Metzler.
Schultheis, Franz/Schulz, Kristina (2005): Gesellschaft mit begrenzter Haftung. Zumutungen und Leiden im deutschen Alltag. Konstanz: UVK.
Zum Buch
Schultheis, Franz (2019): Unternehmen Bourdieu. Ein Erfahrungsbericht. Bielefeld: transcript. 106 Seiten. 14,99 Euro.