»Self-Tracking« macht Sport zum Fremdbestimmungsprogramm.
Erscheinen in ND.Die Woche vom 09.02.2019
Wer hat sie nicht, diese seltsamen Kontakte auf Facebook oder ähnlichen Plattformen: Auch wenn sie ansonsten reflektierte, sogar kritische Menschen sein mögen, entblöden sie sich nicht, mittels des sozialen Netzwerks die Mitwelt regelmäßig über ihre Sportaktivitäten in Kenntnis zu setzen. Sie »teilen« ihre Trainingsfortschritte, die Laufdaten und oft sogar die Routen. Ganz ungefragt informieren sie darüber, wie viele Kilometer sie diesen Monat auf den Sohlen haben, wie viele Kalorien dabei verbrannt wurden – oder sogar, wie viel Schlaf sie letzte Nacht bekamen.
Immer wieder spülen sich derartige Postings auf das Endgerät – von Bekannten, die ansonsten durchaus kluge Gedanken veröffentlichen oder Analysen von gesellschaftskritischen Zeitschriften weiterverbreiten. Woher dieser Widerspruch? Ist das überhaupt noch einer? Werden hier wider besseren Wissens private Daten geteilt – oder gehört dies alles schon zum unhinterfragten Alltag der Jetztzeitmenschen?
Dieses Leben nach Zahlen scheint mittlerweile omnipräsent zu sein. »Self-Tracking« – alsoe die Erhebung, Sammlung, Zusammenfassung und Auswertung von Daten über alle nur denkbaren Merkmale und Funktionen des eigenen Körpers durch unterschiedliche Apps und Verfahren – beschreibt eine neuartige Form der Optimierung des eigen Selbst. Originalton: »Fordere dich heraus: Tritt gegen dich selbst an, indem du dich mit einer bereits absolvierten Aktivität misst«, so heißt es bei der Fitness-App Runtastic.
Solche Apps und Technologien können alle möglichen Daten automatisch aufzuzeichnen, katalogisieren und danach grafisch darstellen. So wird es möglich, mit einem vergleichsweise geringen Aufwand die Leistungsentwicklung der User*innen auf- und nachzuzeichnen. Das Ausmessen der Strecken, der Zeit, der Kalorien, der Pulsfrequenz – all diese Dinge werden in Lauf-Apps zusammengeführt und aufbereitet. Self-Tracking ist »in der Lage, Hunderte von Faktoren sichtbar zu machen, die auf ein bestimmtes Ziel Auswirkungen haben«, so fasste das der Soziologe Simon Schaupp zusammen.
Wenn der Kopfhörer applaudiert
Zahlen, Daten und Kurven sollen ›helfen‹ , Implizites und Unausgesprochenes aufzudecken. Sind doch Daten ›belastbarer‹ als subjektive Wahrnehmungen und können letztendlich Gewissheit bringen. Vergleichbare Daten und eine vermeintlich wissenschaftliche Form bilden die Realität scheinbar genau, ja objektiv, ab: Eine instrumentelle Logik, die eine Messung von Körperdaten mit Selbsterkenntnis gleichgesetzt und den Körper auf reine Messdaten reduziert. »Jede versäumte Joggingrunde, jede überzählige Kalorie, jede verträumte Minute Arbeitszeit wird unmittelbar registriert und angemahnt, um nicht vor sich selbst in den Verdacht zu gerade, nicht das Maximum aus sich herauszuholen«, resümiert Schaupp.
Doch nicht nur die eigenen Daten werden in der App gespeichert. Stets geht es auch imVergleiche. Bestes Beispiel ist auch hier die App Runtastic. Sie bietet anderen Personen die Möglichkeit, in Echtzeit am PC die eigenen sportlichen Aktivitäten zu verfolgen – was den gerade Übenden und Schwitzenden mit Applausgeräuschen via Kopfhörer signalisiert wird. »Durch das Bewusstsein, dass man nicht nur selbst weiß, ob oder wie lange man joggen geht, sondern viele andere, lässt sich ein wesentlicher Anteil der Motivationsfähigkeit der Self-Tracking-Technologien erklären«, so schreiben Matthias Leger, Susanne Panzitta und Maria Tiede in einem soziologischen Beitrag zur ›Digitalen Selbstvermessung‹. Dabei unterscheiden sie drei Formen des Vergleichs: Zuerst der Vergleich mit sich selbst, als Fort- oder Rückschritt sichtbar gemacht im Vergleich zu früheren Aktivitäten Der Vergleich mit (konkreten) Anderen durch Nebeneinanderhalten der Daten. Und der Vergleich mit normierten Durchschnittswerten wie etwa dem Body-Mass-Index. »Vergleichen, Verbessern, Motivieren«, fassesn Leger, Panzitta und Tiede die Imperative solcher Technologien zusammen – die sich in breiter Front auf dem Vormarsch befinden.
Tatsächlich gibt es kaum noch Lebensbereiche , für die es keine passenden Apps gibt. Ob Fittness-Tracker, Kalorienzähler oder Apples »Health«: die Verbreitung von Selbstvermessungsangeboten wächst zunehmend. Belastbare Zahlen gibt es jedoch lediglich für den Gesundheitsbereich. 2012 gaben in den USA 60 Prozent der Befragten an, ihr Gewicht und ihre Fitnessübungen über Apps zu kontrollieren, ein Drittel beobachtete Indikatoren wie Blutdruck, Zucker oder Schlaf. Die Mehrheit der Nutzer*innen war zwischen 18 und 34 Jahren alt. Die Jüngern fokussieren sich eher auf Fitness, die Älteren auf Gesundheit. Im Herbst 2014 ergab eine Umfrage für die Bundesrepublik, dass eine Mehrheit von 56 Prozent noch keine Erfahrung mit Self-Tracking hatte, es sich aber vorstellen könne. Bei den Nutzer*innen wollte eine Mehrheit ihre Gesundheit verbessern sowie neue »Erkenntnisse über sich selbst« erlangen.
Wissen die nicht eh schon alles?
Die permante Datenpreisgabe wird dabei ausgeblendet oder bleibt unbewusst. Dabei geht es um Körperdaten, die auch von der Nutzerschaft zumindest partiell als persönlich und sensibel eingestuft wurden. Doch beiten all dies Apps einen derart niederschwelligen und spielerischen Zugang, dass solche Fragen in der Neugier untergehen. Leger, Panzitta und Tiede beschreiben wie derartige Bedenken im Selbstgespräch wegdiskutiert werden: Sind die Daten wirklich so persönlich und sensibel? Gibt man nicht bei Google, Facebook und Co. längst viel Wichtigeres preis? Trotz fortlaufender Skandale um NSA, um deren Überwachungsprogramm PRISM, um die Datenfirma Cambridge Analytica usw., ist das Gefahrenbewusstsein in diesem Zusammenhang absolut marginal.
Diese Technologien produzieren ein Menschenbild, das geprägt ist von von Selbstdarstellung, die dauerhaft gepflegt werden will. Ganz neu ist das freilich nicht. Ähnliches hatte bereits 1956 der Soziologie Erving Goffman in seiner Theater-Analogie beschrieben. »Wir alle spielen Theater«, so Goffmann i seinem bis heute viel gelesenem gleichnamigen Essay: Beständig präsentieren wir uns in einer Rolle und schaffen eine Fassade, »ein standardisiertes Ausdrucksrepertoire mit Bühnenbild und Requisiten«. Heute sind die sozialen Netzwerke die Theaterbühne.
Eröffnen diese Praktiken umfassender digitalen Selbstvermessung Möglichkeiten der Effizienzsteigerung und der Selbsterkenntnis? Beförderen sie im Gegenteil den Verlust der Kontrolle und Selbstbestimmung? Es ist schon richtig, dass alle neuen Technologien und Infrastrukturen zunächst mit solch polarisierten Debatten verbunden waren, schon bei der Einführung der Postkutsche war dies nicht anders. Doch in der Tat lassen sich aktuell technische, praktische und diskursive Verschiebungen beobachten, die so weitreichend sind, dass von einer neuen Qualität gesprochen werden kann.
Die Technologien des Self-Trackings ermöglichen es nun erstmalig, den gesamten Körper in Wert zu setzen und für das Kapital interessant zu machen. Die gesamte Lebensführung wie Essen, Schlaf, Bewegung, Beziehung und Emotionen können nun erfocht und bewertet werden – und dies alles in Echtzeit. Die Daten sind selbst schon Ware. Sie werden weiterverkauft – und rund um die Selbstvermessung entsteht ein riesiger neuer Markt an Apps und weiterem Zubehör.
Die körerpliche Selbstsorge, die durch das Self-Tracking angesprochen wird, könnte ja durchaus einen positivenNutzen haben. Ess ist ja nichts dagegen zu sagen, auf die eigene Gesundheit achten zu wollen. Unter Bedingungen kapitalistischen Konkurrenz aber werden diese Apps aber so programmiert, dass sie am Ende Profit machen sollen. Sie sind daher nie zweckfrei. Man sollte sich also nicht freuen, wenn Bekannte wieder 5 Kilometer mehr geschafft haben. Und nich viel weniger sollte man das aber selbst veröffentlichen.
Weiterlesen:
Stefanie Duttweiler et al. (Hrsg.): Leben nach Zahlen. Self-Tracking als Optimierungsprojekt? Bielefeld 2016.
Daniel Houben/ Bianca Prietl (Hrsg.): Datengesellschaft. Bielefeld 2018.