Der Historiker Perry Anderson liefert eine fundierte Begriffsgeschichte der »Hegemonie«
Erschienen in Neues Deutschland vom 12.10.2018
Wie kann man das alles begreifen? In Chemnitz tobt ein rassistischer Mob und ein Verfassungsschutzpräsident fragt sich, ob dies nicht von Linken inszeniert sei, während der Bundesinnenminister sich über jeden straffällig gewordenen Ausländer freut, den er abschieben kann. Auf der anderen Seite gründet sich eine linke Sammelbewegung, die zum Aufstehen aufruft, und Tausende versammeln sich hinter dem Hashtag wirsindmehr. Bei alledem geht es nicht nur um politische Macht, sondern auch um die Verschiebung von gesellschaftlichen Debatten.
Wer diese Entwicklungen besser verstehen will, braucht Begriffe. Der britische Historiker Perry Anderson liefert solche in seiner Ideengeschichte. Es dreht sich bei ihm alles um Hegemonie. Der Begriff blickt auf eine über zweitausend Jahre alte Geschichte zurück, wurde an verschieden Orten in verschiedener Weise benutzt.
Hegemonie sei, so Anderson eine Form der Herrschaft, die gleichzeitig auf Zwang und Unterdrückung sowie Konsens und Zustimmung beruhe. Das Buch verfolgt, wie sich das Verhältnis dieser beiden Kräfte in der Geschichte gewandelt hat. Anderson liefert eine kenntnis- und detailreiche Literaturschau zahlreicher Theoretiker, die sich mit dem Begriff zu unterschiedlichsten Zeiten beschäftigt haben. Unter ihnen findet man Liberale, Sozialisten, Konservative oder Vorkämpfer der Revolution.
Im antiken Griechenland wurde der Begriff bei Herodot als »Führungsrolle« eines Mitglieds in einem Bündnis verstanden. Er stand damit im Gegensatz zur puren Herrschaft, die der Ausübung des Zwangs bedurfte. Die Hegemonie brauche diese nicht notwendigerweise, sondern kann sich auch auf freiwillige Unterwerfung auf Zeit gründen. Im Römischen Reich verliert der Begriff mehr und mehr an Bedeutung und wird durch das »Imperium« ersetzt. Rom setzte nicht auf Freiwilligkeit, sondern auf Eroberung. Diesseits antiker Kontexte tauchte der Begriff dann erst wieder Mitte des 19. Jahrhunderts in Deutschland auf und bezog sich auf die Rolle Preußens im deutschen Einigungsprozess.
Seitdem gehört der Begriff sowohl in der politischen Theorie und den Staatswissenschaften als auch in den Internationalen Beziehungen zum festen Repertoire. Lenin bezog den Begriff das erste Mal auf den Nationalstaat. In den Debatten der russischen Revolutionäre zu Beginn des 20. Jahrhunderts ging es darum, wie die Arbeiterklasse – zusammen mit der Bauernschaft – die gesellschaftliche Hegemonie im Staat erreichen kann.
Dies machte nachhaltiger Eindruck auf einen italienischen Kommunisten, mit dem man den Begriff der Hegemonie wohl am stärksten assoziiert: Antonio Gramsci. In seinen Gefängnisheften arbeitete er als Erster »so etwas wie eine systematische Theorie des Begriffs« aus. Er verallgemeinerte den Begriff auf alle stabilen Formen der Herrschaft jeglicher Klasse.
In seinem Parforceritt zeichnet Anderson die diversen Formen und Orte nach, an denen der Begriff verwendet wurde: im Vereinigungsprozess Deutschlands, im zaristischen Russland, im Italien des Faschismus bis hin zum revolutionären China, im neoliberalen England, in den Debatten im Kalten Krieg und abschließend im postkolonialen Indien bis zur unpolaren Herrschaft der USA. Anderson zeigt hier verschiedene Schulen der Internationalen Beziehungen auf, die in den USA wahlweise ein »liberales Imperium« sehen, dem sich aufgrund seiner Stärke die westlichen Industrieländer mehr oder weniger freiwillig unterworfen hätten, oder einen Hegemon, dessen Vorherrschaft auch ein ökonomisches Bedeutungsfeld habe und sich in der Vorherrschaft von Kommerz und Kultur zeige. Auch Donald Trump scheint sich diesen Ebenen bewusst zu sein. Für ihn reicht es nicht mehr, dass die USA »lediglich« Hegemon sind. Alles deutet darauf hin, dass er die USA in der Rolle eines Imperiums sieht.
Doch Hegemonie war schon in der Antike mehr als bloße Macht. Das im Begriff angelegte Spannungsverhältnis zwischen kulturellem und politischem Einfluss, zwischen Zwang und Freiwilligkeit bringt uns zurück zu den deutschen Verhältnissen. Ein hegemoniales Projekt braucht mehr als Herrschaft, muss sich auch den Erfahrungen der Menschen anschließen. Daran erinnert Anderson. Doch nur die politische Rechte scheint dies aktuell verstanden zu haben.
Perry Anderson: Hegemonie. Konjunkturen eines Begriffs. Suhrkamp, 249 S., br., 18 €.