Der Autor Ronald M. Schernikau dachte schwule Identitätspolitik, Pop und Klassenfragen zusammen. Jetzt wird er wieder gelesen.
Erschienen in: taz .die tageszeitung vom 29.08.2018
Schwul und Kommunist. Zwei Bezeichnungen, die zumindest in meiner Schulzeit in Bayern als Beschimpfungen fungierten. Ich befürchte, hierbei hat sich in weiten Teilen Deutschlands wenig geändert. Gewendet wird dies bei einem, der sich beides – Schwulsein und Kommunist-Sein – auf die Fahne geschrieben hat. Ronald M. Schernikau.
„Als kommunistischer Schriftsteller und als selbstbewusster Schwuler verfolgte Schernikau stets eine Ästhetik der Affirmation, also Welt-Zugewandtheit: er sah stets und vor allem, dass etwas möglich ist – und was möglich zu sein hat und möglich sein muss“, so fasst Lucas Mielke, Mitherausgeber der im Herbst erscheinenden Werkausgabe Schernikaus dessen Leitmotiv zusammen.
Die Werkausgabe ist ambitioniert. In der westdeutschen Provinz aufgewachsen, schreibt Schernikau bereits mit 14 Leserbriefe an die linke Monatszeitung Konkret und mit 18, noch vor seinem Abitur, das Buch, das ihn auf einen Schlag zum Star machen solle: die „kleinstadtnovelle“.
Dort schildert er mehr als die Enge für einen jungen Homosexuellen in der Provinz, er benennt haargenau die Aggressionen und Vorbehalte der Gesellschaft gegen alles, was von der Norm abweicht, insbesondere Homosexualität. Das Buch erschien 1980 im Rotbuch Verlag und erregte einiges Aufsehen.
Schreiben als Revolte
Schernikaus Revolte gegen die Starrheit der gesellschaftlichen und sexuellen Konventionen wurde das Schreiben. Als Kommunist war dies für ihn aber kein Selbstzweck, sondern auch immer Schreiben in gesellschaftsverändernder Absicht – ohne die Literatur jedoch als bloßes Mittel der Politik zu begreifen.
Der Flucht in das Schreiben folgte die Flucht nach Westberlin. Dort und in der Sozialistischen Einheitspartei Westberlin angekommen, arbeitete er für die Parteizeitung UZ, die Siegessäule, und das Feuilleton der Konkret. Viel belächelt wurde später die Episode, dass er als erster BRD-Bürger die Genehmigung erhielt, am Leipziger Institut für Literatur „Johannes R. Becher“ zu studieren – kurz vor der Wende. Just zur Zeit des Mauerfalls übersiedelte er nach Ostberlin und wurde als letzter Wessi Bürger der bereits dem Untergang geweihten DDR.
Als Kommunist war sie für ihn der „saure Apfel“ im Gegensatz zum „faulen Apfel“ der BRD, wie es sein Freund und Mentor Peter Hacks bezeichnet hat. Mit der konkreten DDR hatte Schernikau gleichwohl wenig zu tun. Sie war für ihn mehr imaginierter Sehnsuchtsort als konkreter Staat oder Heimat. Er überlebte sie nicht lange. 1991 starb Schernikau.
Sehnsucht – das ist tatsächlich ein wichtiger Begriff, um Schernikau zu verstehen. Sie spricht auch aus seinem letzten großen Werk „legende“. Die Wiederveröffentlichung dieses Romans, in dem sich eine seltsame Vertrautheit und Aktualität politischer Fragen entdecken lässt, wird den ersten Band der Werkausgabe bilden.
Eine sekuläre Bibel
„legende“ war mit über 800 Seiten das Opus magnum von Schernikau und erschien erst postum im Jahr 1999, was prominenten Fürsprecher_innen wie Elfriede Jelinek, Peter Hacks und H. L. Gremliza zu verdanken war. Es ist ein Buch aus mehreren Büchern, collagenhaft arrangiert, und es hat nicht weniger als die Bibel zum Vorbild; inhaltlich changiert es zwischen Albernheiten, der Schönheit zwischenmenschlicher Begegnungen und scharfer Gesellschaftsanalyse.
Tatsächlich hat Schernikau im vollen Bewusstsein der Hybris so etwas wie eine säkulare Bibel geschrieben. „,legende‘ ist einerseits eine Zusammenfassung seines Wissens über die Welt und gleichzeitig eine Anleitung zum Umgang damit, ein Appell: Macht etwas! Und macht es zusammen“, schreibt der Germanist Mielke.
Eine Handlung in vertrautem Sinn gibt es nicht. Dafür viele kurze Abschnitte, zweispaltig gedruckt. Der Nachlass, der im Archiv der Berliner Akademie der Künste aufbewahrt wird, birgt auch ein umfangreiches Konvolut von Textbausteinen, die den langwierigen Entstehungsprozess des Montageromans nachvollziehbar machen.
Vom Ausschnitt aus Boulevardblättern über Zitate der Gegenwartsliteratur bis hin zu Referenzen auf die Klassiker der Sozialwissenschaften findet sich hier scheinbar Disparates, das – im Ton zwischen heiterer Ironie und tiefem Ernst wechselnd – zum ästhetisch-politischen Vermächtnis Schernikaus verflochten wurde.
Optimismus im ganzen Buch
Im Roman versammeln sich die skurrilsten Gestalten: von abgehalfterten Kommunisten über geldgierige Kapitalisten bis hin zu Göttern, die den Menschen das Glück bringen wollen. Diese betreten die Insel, als Symbol Westberlins, und verwickeln sich in den Alltag des sie umgebenden Landes: der DDR. Optimismus und das Bekenntnis zum sozialistischen Staat, der während des Erscheinens des Buches tatsächlich bereits Geschichte war, zieht sich durch das Buch.
Schernikau stellte den Roman wenige Wochen vor seinem Tod fertig. Auch wenn er aufgrund seiner Aids-Erkrankung ahnte, dass er die Veröffentlichung nicht mehr erleben würde, strotzt das Buch vor Hoffnung und dem Glauben an eine bessere, kommunistische Zukunft.
Und dies trotz gleichzeitiger heftiger Kritik an den SED-Parteikommunisten: „Die Dummheit der Kommunisten halte ich für kein Argument gegen den Kommunismus“, schreibt Schernikau. Er sah das Elend der Welt, ohne jedoch daran zu verzweifeln – und schuf sich über einen Zeitraum von acht Jahren in „legende“ seine eigene.
Das Szenario, in dem es Götter braucht, um die Verhältnisse zum Tanzen zu bringen, ist ein Anlass, sich auf einer konkreteren Ebene Gedanken darüber zu machen, wie der Weg in eine Gesellschaft aussehen könnte, in der Menschlichkeit, Solidarität und Schönheit eine Rolle spielen.
Identitätspolitik und Klassefrage zusammendenken
Der Abschnitt „schwulsein. ne anmerkung“ gibt als eine von mehreren essayistischen Einlagen in „legende“ Aufschluss über das Politikverständnis Schernikaus und ist vor dem Hintergrund aktueller Debatten über Identitätspolitik mit Gewinn zu lesen, als Mahnung, Identitätspolitik und Klassenfrage zusammenzudenken.
In dem Abschnitt beschreibt Schernikau am Beispiel schwuler Identität, inwiefern Abspaltung von Anderem, das durch Benennung als solches erst konstituiert wird, notwendiger Bestandteil der kapitalistischen Vergesellschaftung ist. „solange die elementarsten probleme der menschheit nicht annähernd gelöst sind, ist es absurd, die welt als eine vornehmlich schwulendiskriminierende zu begreifen. wer für die homosexuellen kämpft und nichts darüber hinaus, tut zu wenig“, schreibt Schernikau.
Kommunistische Politik müsse, von der je spezifischen Form der Unterdrückung ausgehend, immer auch die Mechanismen in den Blick nehmen, die jene hervorbringen. „Eine wesentliche Intention seines Schreibens war die mitzuteilende Erkenntnis, dass die Formen und Zwänge von Ausbeutung nicht, wie Marx schreibt, als ‚selbstverständliche Naturgesetze‘ akzeptiert werden dürfen, sondern dass die Verhältnisse historisch gewachsen und damit veränderbar sind“, meint Lucas Mielke.
Kommunist zu sein bedeutete für Schernikau immer auch, den Menschen etwas zuzutrauen. Es braucht nicht erst die Götter, die auf die Welt kommen! Wenn Schernikaus Texte uns heute noch etwas sagen, dann genau dies: Versucht es. Versucht es trotzdem.
Für Ost und West schwierig
Wer den Menschen die Freiheit zugesteht und Möglichkeiten aufzeigt, kann sie jedoch auch verängstigen. Das Offene und Neue ist zwar das Spannende, aber auch das Unübersichtliche und Unkontrollierbare. Eine Auseinandersetzung mit Schernikaus Texten gestaltete sich daher sowohl in Ost als auch in West schwierig. In der DDR wollten seine Texte so gar nicht zu den Normen des sozialistischen Staates passen. Die vielen popkulturellen Bezüge vertrugen sich nicht mit dem häufig spießigen DDR-Sozialismus.
Das Manuskript seines Buches „die tage in l.“ wurde zwar von den Lektoren in der DDR gelobt, eine Veröffentlichung jedoch ausgeschlossen. Im westdeutschen Medienbetrieb wurde seinen Texten Sprödigkeit vorgeworfen. Ein Lektor des westdeutschen Stroemfeld Verlags machte einem Text Schernikaus sehr deutlich den Vorwurf, nicht zu wissen, „was er bedeuten soll“. So blieb er hier und da lange ein Fremder.
Nach seinem Tod geriet Schernikau weitgehend in Vergessenheit, seine Bücher waren vergriffen oder warteten auf Veröffentlichung. Seit einigen Jahren ist jedoch eine Schernikau-Renaissance im Gange. Den Startschuss gab 2009 die Biografie „Der letzte Kommunist“, geschrieben von Matthias Frings. Im Jahr 2015 folgte die große Konferenz „lieben, was es nicht gibt“ und der gleichnamige Sammelband im Berliner Verbrecher Verlag, in dem nun auch die Werkausgabe herauskommen wird.
Ob es mit „legende“ dazu kommen wird, dass „schwul“ und „Kommunist“ gesamtgesellschaftlich keine Schimpfwörter mehr sind, mag man bezweifeln. Als Erinnerung daran, dass es andere Formen von Sexualität, Lebenslauf, Aussehen und auch Gesellschaft geben kann, ist sie jedoch hoch willkommen.