Lohnt sich die Re-Lektüre von Marx im Zeitalter der Digitalisierung und weltweiten Kommunikation? Rezension zu: Christian Fuchs: Marx lesen im Informationszeitalter. Erschienen in: kritisch-lesen 48 vom 10.07.2018
Unzählige Publikationen, Filme und Texte erscheinen aktuell zum 200. Geburtstag von Karl Marx. Neben Biographien und Werkgeschichten versuchen viele Texte, Marx auf seine Aktualität hin abzuklopfen. Was kann seine Gesellschafts- und Wirtschaftstheorie 150 Jahre nach Erscheinen seines Hauptwerks „Das Kapital“ noch leisten?
Mit dieser Frage leitet auch Christian Fuchs, Professor für Medien- und Kommunikationswissenschaft an der Universität Westminster in London sein 2017 im Unrast-Verlag erschienenes Buch „Marx lesen im Informationszeitalter“ ein: „Die LeserInnen dieses Buchs fragen sich möglicherweise: warum sollten wir Kapital Band 1 heute lesen“ (S. 9, Herv. i. O.) Fuchs räumt der Beantwortung dieser Frage mehr als 550 Seiten ein. Sowohl der voluminöse Umfang als auch die Gestaltung des Buches – goldene Schrift auf dunkelblauem Einband – verweisen direkt auf das Buch, um das sich bei Fuchs alles dreht: die MEW 23, der erste Band des „Kapitals“ von Karl Marx. Fuchs, der zahlreiche Publikationen zu den Themen Marxismus, Digitalisierung und Kommunikation verfasst hat, hält sich in seinem Buch strikt an die Abschnitte und Kapiteleinteilungen von Marx’ Originalschrift. Wer die Gliederung aufschlägt, wird sich sofort an einen Kapital-Lesekreis erinnert fühlen: Abschnitt I: Ware und Geld; Abschnitt II: Verwandlung von Geld in Kapital und so weiter. Aus medien- und kommunikationswissenschaftlicher Perspektive will Fuchs Marx’ Begriffe für das Informationszeitalter furchtbar machen. Dies gelingt ihm mal besser, mal schlechter.
Marx’ Kapital als Ausgangspunkt
Unbestritten hat Christian Fuchs seinen Marx gelesen und er lässt auch keine Gelegenheit aus, dies zu zeigen. Das führt zu Sätzen, in denen Fuchs scheinbar alle ihm bekannten Beschreibungen auflistet, die Marx je für einen Begriff verwendete. Auf die Frage, was Kapital sei, schreibt Fuchs mit Marx: Es ist „Verwertung des Werts“ (Marx, 1973, S. 166), „Selbstzweck“ (1973, S. 167), „maßlos“ (1973, S. 167), „rastlose Vermehrung des Werts“ (1973, S. 168) – es folgen noch ein Dutzend weiterer solcher Zitate im Satz. Das mag lehrreich sein. Sonderlich lesbar und für eine Zusammenfassung beziehungsweise Einführung ins „Kapital“ erscheint es aber nicht zwingend geeignet, vor allem weil sich solche Sätze durch das gesamte Buch ziehen: Für die Ware gibt es sieben Zitate in einem Satz, für die ursprüngliche Akkumulation führt Fuchs fünf Zitate auf und der Staat kommt mit immerhin noch vier Marx-Zitaten zur Ehre. Dies zieht sich durch das ganze Buch: Fuchs beschreibt haargenau die Argumentation von Marx, die Entwicklung seiner Begriffe und ihre inneren Zusammenhänge. In dieser Tiefendarstellung der Marxschen Gedanken liegt aber eine doppeltes Problem: Zum einen fragt man sich während der Lektüre, ob es sich noch um eine Einführung ins „Kapital“ handelt oder das Buch eine Paraphrase des Marxschen Originals ist und zum anderen fällt demgegenüber die Aktualisierung, die Fuchs vornehmen will und die ja eigentlich das Hauptaugenmerk verdient hätte, meist zu dünn aus.
Fuchs liest Marx von Hegels Logik her. Die vielen Schaubilder, in denen die Dialektik zwischen Gebrauchswert und Wert, Quantität und Qualität, Wesen und Erscheinung und so weiter, dargestellt werden, zeigen dies. Nach einer gewissen Zeit kann man jedoch schon zu schmunzeln anfangen, über ein immer-gleiches „hegelianisch-marxistisches Dreieck“ (S. 146) – einer grafischen Darstellung, an der sich Fuchs gütlich bedient. Sie soll wohl zur Verdeutlichung des Sachverhalts dienen, ist mitunter aber schlichtweg unnötig – etwa wenn der Zusammenhang zwischen Geld und Ware einfach nur als Linie dargestellt wird oder wenn versucht wird, die gesamte kapitalistische Informationsgesellschaft in ein Schaubild zu zwängen. Das wird dann so komplex, dass das Verständnis eher gestört als vertieft wird.
Zum einen hält sich Fuchs zwar strikt an die Kapiteleinteilung des ersten Bandes des „Kapitals“, zum anderen werden aber auch immer wieder Exkurse zu modernen Theorien eingestreut. Wir lesen Exzerpte zu David Harvey, Nicos Poulantzas, Michel Foucault, Rosa Luxemburg, Dallas Smythe (ein marxistischer Medienwissenschaftler, auf den sich Fuchs vielfältig bezieht) und vielen weiteren. Eine solche Erweiterung ist sicherlich sinnvoll, doch wirkt sie häufig gewollt aktuell und unverbunden mit den Ausgangsbegriffen. An manchen Stellen wird dann aber doch noch deutlich, wie es hätte aussehen können: So gelingt es Fuchs anschaulich, genau und modern, den Marxschen Begriff der Kooperation mit dem Computer zu verbinden. Am Beispiel der Wikipedia spielt Fuchs die Doppelbewegung, die bei der Marx’schen Kooperation angelegt ist, durch: Zum einen können gemeinsam Menschen an einem Artikel schreiben und im Wortsinne kooperieren. Zum anderen geschieht dies alles unter Kontrolle des Kapitals. Im Laufe seiner Entwicklung zwingt der Kapitalismus immer mehr Menschen in den Produktionsprozess. Durch vernetzte Computertechnologie müssen diese nun nicht mal mehr an einem Ort sein, um (zum Wohl des Kapitals) zu kooperieren, sondern können weltweit vernetzt ausgebeutet werden. Hier zeigt sich, was das Buch an seinen besten Stellen doch kann: Alte Begriffe mit neuem Leben füllen und damit Marx ins 21. Jahrhundert zu holen und seine Aktualität aufzuzeigen.
Exkurse hingegen wie die Beschreibung der Ausbeutungsform in Zwangs- und Arbeitslagern im Nationalsozialismus beim Arbeitstag oder Marx’ Briefwechsel mit der russischen Sozialistin Vera Sassulitsch über die Entwicklungsmöglichkeiten in Russland sind als Einzelepisoden spannend, verdunkeln in ihrer Fülle aber eher die Stringenz der Argumentation.
Wo bleibt die Erneuerung?
Das eigentliche Thema, die Erneuerung der Marxschen Theorie im Informationszeitalter, kommt bei alledem deutlich zu kurz. Fuchs geht von der These der Degradierung von Informationen und Kommunikation in der klassischen marxistischen Theoriebildung aus. Diese seien lediglich als Phänomene des „Überbaus, sekundär, unproduktiv, [als] bloßer Ausdruck der Zirkulation und des Konsums“ (S. 17) definiert, die durch die ökonomische, materielle Basis bestimmt seien. Demgegenüber sieht sie Fuchs durchaus materiell und stofflich. Auch für Informationen und Kommunikation, die die sonderbare Eigenschaft haben, „an sich kein knappes Gut“ (S. 41) zu sein, ist konkrete Arbeit notwendig. „Die Arbeit schafft sowohl stoffliche als auch nichtstoffliche Produkte. In einer materialistischen Philosophie sind sowohl Information als auch stoffliche Produkte materiell“ (S. 163). Fuchs weist mit Marx nach, dass die Arbeitskraft immer noch die Quelle des Reichtums ist. Keine Software kommt ohne Hardware aus, die produziert werden muss. Die These, wonach Wissen eine unabhängige Wertquelle sei, hätte Marx als „Vulgärökonomie“ bezeichnet. Fuchs stimmt hier zu. Er räumt auch mit dem Gedanken auf, die derzeitigen Veränderungen als „radikale Unterbrechung oder gar als eine neue Gesellschaft zu beschreiben“ (S. 351). Diese lasse die „fortdauernde Existenz der kapitalistischen Klassenverhältnisse außer Acht“ (S. 351).
Anschaulich wird der Doppelcharakter von Medien und Technik beschrieben. Erstere seien in „Klassengesellschaften Mittel zur Kommunikation von Ideologien, Mittel zur Dekonstruktion von Ideologien und Hybride beider Rollen“ (S. 81). Ebenso führe Technik unter kapitalistischen Bedingungen zwar zur Ausdehnung der Arbeit, sie fördere aber zur gleichen Zeit „kommunistische Potentiale zur Reduktion der Arbeitszeit für alle Menschen auf ein Minimum“ (S. 354). Sowohl in Medien als auch in der Technik sind die Mittel zur Versklavung als auch zur Befreiung angelegt. Um dies verstehen zu können, braucht es die Lektüre von Marx.
Dahingehend definiert Fuchs dann auch das Ziel seines Buches: Es solle „Menschen dazu zu inspirieren, sich mit Marx’ Arbeiten auseinanderzusetzen als Ankerpunkt über die Rolle der Kommunikation im Kapitalismus und der Gesellschaft und die Frage, wie ein Informationskommunismus erreicht werden kann“ (S. 505).
Praktische Handlungsmöglichkeiten gibt Fuchs zwar nicht, aber es ist schon richtig, das Lesen als ersten Schritt des Widerstands zu begreifen. „Marx lesen im Informationszeitalter“ bewahrt davor, sich gewisser (falscher) Begriffe zu bedienen und Kurzschlüssen zu erliegen. Wer einmal das „Kapital“ gelesen und versucht hat, es auch zu verstehen, wird sich nicht mehr mit Vulgärökonomie zufrieden geben, die die Wirklichkeit mehr verstellt als sie aufzudecken. Humankapital, Zins oder Wachstum werden durch die Marxsche Lektüre zu dem, was sie sind: lebendige Arbeitskraft, Mehrwert und Gesamtarbeit. Kapital wird nicht mit bösen und gierigen Chefs assoziiert, sondern als ein Verhältnis, ein Herrschaftsverhältnis, verstanden. Es geht dabei jedoch nicht darum, die einen Wörter durch die anderen Wörter zu ersetzen, sondern darum, durch die Marxschen Begriffe der Realität auf die Spur und der Wahrheit über die gesellschaftlichen Verhältnisse ein bisschen näher zu kommen – und dies auch im 21. Jahrhundert. Denn auch wenn die Mehrwertproduktion bei Apple, Facebook oder Twitter anders abläuft als im Bergwerk des 19. Jahrhunderts, ist sie immer noch da. Um dies zu verstehen und um dies auch zu verändern, braucht es Marx. Man möchte dann höchstens den Titel des Buches noch um ein Ausrufezeichen erweitern.
Zusätzlich verwendete Literatur
Karl, Marx (1973[1867]): Das Kapital, Band I. In: Marx, Karl/Engels Friedrich: Werke (MEW 23), Berlin.