Autonome diskutieren, Ladenbesitzer schimpfen und manche vermissen die Offenheit – Hamburg ein Jahr nach G20. Erschienen in Neues Deutschland vom 09.07.2018
Anne-Marie Klein weiß, was Krieg bedeutet. Die kleine Frau, die »schon immer« auf St. Pauli wohnt, hat ihn als Mädchen noch miterlebt. Sie kann daher nur den Kopf schütteln über diese Schlagzeile vom letzten Jahr nach dem G20-Gipfel: »Wie Krieg – Krawalle schocken Hamburg«. Krieg war es keiner, sagt Frau Klein, nur eine »wahnsinnige Dummheit«. Wütend ist sie auf die Polizei. Erst habe diese »großmäulig« verkündet, alles unter Kontrolle zu haben und sei dann am Freitag Abend über Stunden im Schanzenviertel nicht eingeschritten. Die Folge: In Hamburg brannten Barrikaden. Der Gipfel wurde zum Desaster. Verständnis für die »Chaoten«, wie Frau Klein sie nennt, äußert sie zwar nicht, aber »es war doch klar«, dass so etwas passieren würde.
Die Chaoten, von denen Frau Klein gesprochen hat, treffen sich am Freitagabend im Autonomenzentrum Rote Flora. Die linksradikale Gruppe Grow hat im Rahmen des »Festivals der grenzenlosen Solidarität«, das mit Podien und Vorträgen, Filmvorführungen, einer Radtour und einer Rave-Demo an den Jahrestag erinnern will, den Autor Achim Szepanski geladen, um über die Theorie des Aufstandes zu diskutieren. Knapp Hundert Leute sind gekommen. Der angebliche »Schwarze Block« erscheint an diesem Tag eher bunt und gut gekleidet: Adidas-Jacken und teure Turnschuhe bestimmen die Szenerie. Eine Verständigung aber, wie man als radikale Linke zu den Riots des Freitag Abend steht, gibt es nicht. Am Jahrestag des Gipfels ist man, so scheint es, immer noch überfordert.
Verlegen reagieren auch die dezidiert linken Orte auf der Schanze. »Wir haben als Kollektiv keine einheitliche Meinung zu den Protesten« – so oder so ähnlich ist es mehrfach aus Läden und Cafés zu hören, in denen man heute noch G20-Protest-Plakate findet.
Ingo Schepper arbeitet in einem Klamotten- und Plattenladen auf dem Schulterblatt. Er findet klarere Worte. Man merkt dem Mann im schicken Polohemd auch ein Jahr danach noch seine Wut an. »Es gibt bis heute keine Regelungen, wie mit den Schäden und Umsatzeinbußen umgegangen wird«, so Schepper. Die vielen kleinen und inhabergeführten Läden blieben auf den Kosten sitzen. Auch er spart nicht mit Kritik. »Es muss doch klar gewesen sein, dass so ein Gipfel direkt neben der Schanze nicht funktioniert.« Das Verhalten der Verantwortlichen in Staat und Polizei nennt er »unverantwortlich«. Sie hätten die Zerstörungen »billigend in Kauf genommen«.
Zwei Kilometer vom Schanzenviertel entfernt betreut Theo Bruns eine Fotoausstellung zu den Protesten, die derzeit im Hamburger Gängeviertel gezeigt wird. Das Gängeviertel wurde 2009 besetzt, um mit Wohnungen, Ateliers und sozialen Projekten einen Ort für Kunst und Kultur zu schaffen. »Konflikt und Konfetti« sei das Motto des Viertels im letzten Jahr gewesen. Man wollte Widerstand mit Kreativität verbinden. Dies sei ein anderer politischer Zugang als der der Autonomen – man verstehe sich aber. »Es ist doch gut, wenn sich verschiedene Aktionsformen ergänzen«, so Bruns. Während des Gipfels habe er erlebt, wie Menschen auf vielfältige Weise zusammengekommen sind. »Es kam zu neuen Begegnungen und es entwickelten sich neue Freundschaften, die bis heute bestehen.«
Dies ist auch für Feli (Name geändert) der wichtigste Aspekt zum Jahrestag. Am Tresen einer Kneipe an der Hafenstraße resümiert sie die Geschehnisse: »Was bleibt, sind die Verbindungen.« Sie spricht von der Vernetzung und der Solidarität zwischen Aktiven aus verschiedenen Gruppen, die vorher wenig verbunden hatte. »Wir sind alle von krasser Repression betroffen, aber diese Erfahrung stärkt auch den Zusammenhalt.« Viele wurden durch G20 politisiert, hätten die unmittelbare Polizeigewalt erlebt und seien immer noch aktiv. Geblieben sind allerdings auch die patrouillierenden Polizist*innen vor der Kneipe.
Spaziert man heute durch das Schanzenviertel, fällt vor allem die veränderte Geräuschkulisse auf. Das dauernde Dröhnen der Polizeihubschrauber und die Martinshörner der Hundertschaften des letzten Jahres sind verschwunden. An ihre Stelle ist wieder ganz normaler Autolärm getreten. Während des Gipfels waren die Straßen vollständig gesperrt und somit als öffentlicher Raum für die Protestierenden nutzbar. Sie saßen zusammen und kamen ins Gespräch. Haustüren standen offen, viele Soli-Küchen boten Kaffee und Essen an, in Kneipen wurden Verletzte versorgt – oder einfach nur Schlafplätze angeboten.
Die Türen sind nun wieder verschlossen und anstelle der Gipfelgegner*innen bestimmen Junggesellenabschiede und Fußballfans die Atmosphäre im Viertel. Doch unter dieser Oberfläche haben sich Beziehungen von Menschen entwickelt, die sich die Erfahrung der Solidarität und die Möglichkeit des Widerstands bewahrt haben. Vor dem Rewe-Supermarkt, der letztes Jahr geplündert wurde, fragt jemand nach Kleingeld. Während der Proteste sei es für ihn leichter gewesen, an Essen und Trinken zu kommen. Auch für ihn ist nun wieder Alltag eingekehrt. Besser ist der nicht.