Interview Dietmar Dath hat hundert Seiten über 200 Jahre Karl Marx geschrieben, und zwar so, dass es nicht reicht.
Gemütliches Denken wird es angesichts der aktuellen gesellschaftlichen Verhärtungen kaum richten, meint Dietmar Dath. Wie man heiße Wut in ungemütliche Theorie verwandelt, kann man von keinem besser lernen als von Karl Marx, dessen Philosophie Dath jetzt in aller Kürze auf den Punkt gebracht hat.
Erschienen in: Der Freitag 17/2018.
der Freitag: Sie beschäftigen sich nicht erst seit gestern mit Marx und haben nun ein äußerst persönliches Buch über ihn geschrieben. Er hatte Sie, so schreiben Sie, im Alter von 15 überzeugt. Danach war es zu spät, von Marx „abzuspringen“. Wie kam es dazu?
Dath: An meinem Gymnasium gab es rechte und linke Lehrerinnen und Lehrer. Die rechten waren Horrorgestalten, die linken gescheiterte Achtundsechziger. Musste man so werden, war dies das Erwachsensein? Gab es nur die Wahl: entweder Gehorsam oder gebrochenes Rückgrat, entweder den immer gleichen Traditionsdreck oder orientierungsloser Jammer? Eine Marxistin, die nicht an der Schule lehrte, sondern im Leben, zeigte mir einen anderen Weg. Der stammte von Marx.
Ihr Buch „100 Seiten Karl Marx“ ist eine grundlegende Einführung in die Marx’sche Lehre. Ist das Buch ein Versuch, ein breiteres Publikum zu erreichen und für Marx zu begeistern?
Das Buch ist eine Auftragsarbeit für den Reclam-Verlag. Es soll Leuten genügen, die nur hundert Seiten zum Thema lesen wollen. Ich hoffe natürlich, es genügt ihnen nicht. Es ist ein bisschen so geschrieben, dass es nicht reicht.
Sie schreiben, Marx habe eine „andere Art, den Verstand zu benutzen“ Wie kommt man dieser Art auf die Schliche und was ist es, was wir im 21. Jahrhundert noch von ihm lernen können?
Es gibt viele Menschen, die das Vorhandene abschaffen wollen. Und es gibt viele Menschen, die das Vorhandene geduldig und intellektuell diszipliniert verstehen und erklären wollen. Das sind nicht immer dieselben, sondern sogar kaum je. Marx war beides, also etwas Seltenes. Das hat Modellcharakter.
Marx erscheint in Ihrem Buch als „ensemble der gesellschaftlichen Verhältnisse“. Sie schreiben über Einflüsse von Epikur , Smith, Hegel, Auseinandersetzungen mit Feuerbach und Sozialdemokraten. Was nur kurz erwähnt wird, ist das Private. Kann man Marx verstehen, wenn man private Einflüsse (Ehe, Kinder, Armut) vernachlässigt?
Man kann niemanden nur vom Kopf her verstehen. Aber das Buch will ja nicht Marx verstehen, es will seine Lehre vorstellen. Der Name „Karl Marx“ ist die Marke, deshalb heißt das Buch so, zumal die einzige Alternative zum Titel „Karl Marx“ das Wort „Marxismus“ gewesen wäre, das er nicht mochte und das viele andere Leute außer ihm auch noch meint.
Sie unterscheiden zwischen kalter und warmer Wut.
Warm ist zu gemütlich. Heiß. Die Wut ist heiß, wenn sie nicht denkt, nur wütet. Kalt ist sie, wenn sie sich Zeit nimmt, ihren Gegenstand zu zerlegen.
Die aktuellen gesellschaftlichen Verhärtungen brauchen sicher auch Analyse. Marx selbst genügten „Ideenscharmützel“ nicht: Geht politischer Kampf ausschließlich mit kalter Wut?
Nein, ohne Hass auf das Unrecht kämpft niemand. Es geht um den Unterschied zwischen notwendiger und hinreichender Bedingung. Ohne heiße Wut kämpft man nicht, ohne kalte gewinnt man nicht.
Selbst Kurt Beck lobt Marx, sozialdemokratische B-Promis erzählen, wie sie zu Marx gekommen sind. Heuchelei oder tatsächlicher Glaube der Sozialdemokratie, in seiner Tradition zu stehen?
Mit Ausnahme von Fußball gibt es auf der Welt nichts, was ich weniger kenne und was mich weniger interessiert als dieses idiotische Zeug der traditionsreichen Partei der Kriegskredite, der Ebert-Noske-Schweinereien, des Radikalenerlasses, des NATO-Doppelbeschlusses, der Hartz-IV-Gesetze, des Jugoslawienkrieges und was man sonst noch alles bestimmt nicht bei Marx findet.
Dass Sie gerade in der „FAZ“ Artikel über Marx veröffentlichen, verwundert. Ist das auch ein Versuch, sich aus linken Grabenkämpfen herauszuhalten?
Die FAZ, wie jeder Rest der alten gediegenen bürgerlichen Öffentlichkeit, hält sich auf Pluralismus etwas zugute. Das kann man als Angebot sehen, über Dinge zu schreiben, die interessant sind, aber nicht immer bürgerlich. Ich schlage vor, man schaut sich den jeweiligen Text an, vielleicht steht ja ab und zu was drin.
Ihr Buch ist dem Historiker Kurt Gossweiler gewidmet. Der steht nun ja für eine sehr orthodoxe Lesart im Zeichen des Marxismus-Leninismus. Was kann man von ihm konkret noch lernen?
Es ist lustig, dass Sie nicht auf den Gedanken kommen, wofür Kurt Gossweiler sonst noch steht. Er steht für die DDR. Er steht dafür, dass es Staaten mit sozialistischem Anspruch gab. Der Mann wurde 1917 geboren und ist 2017 gestorben, man kann sich bei diesen Zahlen einiges denken. Wer die erste Zahl vergisst, schneidet Erfahrungen ab, die nicht unerheblich sind für die Fragen der Gegenwart an das Schicksal der Lehre von Marx.
Wer sich neben dieser Sichtweise noch stark und konkret auf Marx bezieht, ist die Radikale Linke: Sehen Sie hier Stärken oder Schwächen in der Auseinandersetzung mit Marx beziehungsweise welche Form radikaler Politik braucht es im Anschluss an Marx heute?
Man organisiert sich und lernt von Fehlern und kleinen Erfolgen. Dann werden sie vielleicht größer. Das klingt mager, aber Theorie kann Praxis nur unterbrechen und neu gruppieren, nicht ersetzen. Ich habe manchmal den Eindruck, von Theorie wird erwartet, sie solle endlich mal sagen, wie die richtige, die garantiert siegreiche Praxis aussieht. Das ist ein Missverständnis nicht nur von Theorie und von Praxis. Das ist ein Missverständnis von überhaupt allem.
Dietmar Dath, Jahrgang 1970, ist Redakteur bei der FAZ, Science-Fiction-Autor, Popkritiker und „schlauester Kommunist des Landes“ (Ulf Poschardt). Zuletzt erschienen von ihm der Roman Der Schnitt durch die Sonne im Fischer-Verlag und der Band Superhelden beim Reclam-Verlag
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