Oktoberrevolution – revisited

Zahlreiche Publikationen und Veranstaltungen beschäftigten sich zum 100. Jahrestag mit dem Roten Oktober, der Revolution der Bolschewiki unter Lenin. Bini Adamczak fügt mit ihrem Buch Beziehungsweise Revolution dieser Debatte einen wichtigen Aspekt hinzu: Beziehungen.

Erschienen auf marx200.org

Eine Frage, die auch ein Jahrhundert nach der Oktoberrevolution immer wieder auftaucht und je nach politischer Façon unterschiedlich beantwortet wird, ist, ob es sich um eine sozialistische Revolution gehandelt hat, die Russland vom Joch der Zarenherrschaft befreite, oder ob die Bolschewiki das Land vielmehr in eine totalitäre Diktatur geführt haben, die nur die Richtung der Gewalt änderte, nicht aber die Gewalt selbst abschaffte. Diese Frage behandelt auch Bini Adamczaks jüngst erschienenes Buch Beziehungsweise Revolution. Doch hebt sich das Buch auf vielfältige Weise von anderen Publikationen ab. Es ist lehrreich, wunderbar geschrieben und birgt neue Erkenntnisse. Erfrischend ist der Blickwinkel, den Adamczak einnimmt: Neben eine materialistische Analyse der Geschehnisse treten analytische Momente ebenso wie feministische Setzungen, die nicht im Nachhinein in die Analyse eingebaut werden, sondern von Anfang an – gleichwohl wie selbstverständlich – wirken.

Zu Beginn des Buches begleiten wir Ignazio Silone, einen italienischen Kommunisten, wie er mit seinem Freund Lazar Schatzky, dem Vorsitzenden des kommunistischen Jugendverbandes Komsomol, Mitte der zwanziger Jahre durch das postrevolutionäre Moskau spaziert – und traurig ist. In dieser Trauer erblickt Adamczak die von ihr so bezeichnete Postrevolutionäre Depression (PRD). Von dieser Form der Traurigkeit waren viele russische Revolutionär_innen nach der Revolution befallen: Die Jungen waren traurig, weil sie sie verpasst hatten, und die Älteren, sie nicht noch länger erleben zu können. Trotz des Erfolgs der Revolution herrschte Katerstimmung.

Erklärt wird dies dadurch, dass die Revolution zum Fetisch geworden war und der eigentliche Zweck – die befreite Gesellschaft –  hinter den Mitteln verschwand. Diese Beschreibung der PRD wird nun klug mit den Gräuel des Stalinismus in Verbindung gebracht und liefert damit neue Erklärungsmuster für die Entwicklungen, welche die Sowjetunion unter Stalin genommen hat. Im Stalinismus erblickten, so Adamczak, viele Revolutionär_innen eine Wiederaufführung der harten, aber auch als romantisch empfundenen Jahre des Bürgerkriegs. Die stalinistische Konterrevolution versprach die Wiederaufnahme des Klassenkampfs. Dieser hatte unter Stalin aber wenig mit Klassen, dafür viel mit einem inneren Krieg zu tun. An die Stelle der sozialen Gegnerschaft der Klassen trat eine „biopolitische Feindschaft“ gegen die so genannten Feinde des Volkes. Diese seien auszumerzen, daraus entstand: der Archipel Gulag, die Schauprozesse und die Säuberungen.

Die Revolution als Missverständnis

Neben dieser plausiblen Erklärung unternimmt Adamczak in starker Anlehnung an Orlando Figes große und großartige Publikation Die Tragödie eines Volkes eine wichtige Dekonstruktionsarbeit der konkreten Ereignisse von 1917. Zwar versuchte die Parteiführung um Lenin, den Roten Oktober als die heroische Geschichte zu verkaufen, wie sie in den Filmen von Eisenstein vermittelt wird. Aber vielmehr handelte es sich, so Adamczak, um ein Ensemble von Mikrorevolutionen. Das Buch wird dabei durchaus komisch, wenn Adamczak die Missverständnisse der Revolution beschreibt. Durch einen Blick in Beziehungsweise Revolution, aber auch in Die Tragödie eines Volkes, bekommt man eher den Eindruck, als hätte eine linksradikale 08/15 Politgruppe die Oktoberrevolution gestartet. Ein längeres Zitat soll dies verdeutlichen:

„Die Kanonen, mit denen der Sturm auf das Winterpalais eröffnet werden sollte, stellten sich als verrostete Museumsstücke heraus, für die eigens organisierten Ersatzkanonen war keine Munition auffindbar. Im entscheidenden Moment wurde klar, dass es keine rote Lampe gab, die das vereinbarte Startsignal hätte geben sollen. Der Kommissar, der die rote Lampe holen sollte, verlief sich im Dunkeln, fiel in eine Schlammgrube und kehrte mit einer Lampe zurück, die sich weder am Fahnenmast befestigen ließ noch überhaupt rot war. (…) Kaum waren die Minister verhaftet, entdeckten die bolschewistischen Arbeiterinnen den riesigen Weinkeller des Winterpalais und begannen ein mehr als zehn Tage anhaltendes Saufgelage, das sich durch keine Disziplin stoppen ließ.

Die zur Bewachung des Schatzes abgestellten Komissare waren nach kürzester Zeit betrunken, und der auf die Straße gepumpte Wein wurde aus den Rinnsteinen genossen. Rückblickend mag die glorreiche Stürmung des Winterpalais, die in die Geschichtsbücher als ‚Oktoberrevolution‘ eingegangen ist, somit als Missverständnis erscheinen, als konspirativer Putsch in Form einer Kette von Missgeschicken und Missverständnissen oder genauer als die Eroberung eines schlecht bewachten Weinkellers.“ (S. 63f.; siehe auch Figes: 512ff.)

Auch wenn Adamczak hier viel von Figes Werk übernimmt, lohnt es sich, den Lektüren verherrlichender und heroisierender Blicke auf die Revolution eine historisch fundierte Analyse entgegenzusetzen. Die Revolution war ein Durcheinander, zwar ein „heilvolles“ – aber immer noch ein Durcheinander.

Gefangen zwischen Totalität und Singularitäten

Einen spannenden Versuch unternimmt Adamczak nun im zweiten Teil des Buches. Dort betrachtet sie die Revolution von 1917 durch das Prisma der Revolten des Jahres 1968 und bringt sie in wechselseitigen Austausch. Verdeutlicht wird dies am Beispiel der Geschlechterverhältnisse.
1917 sei eine Gesellschaft der Männlichkeit gewesen. Die Geschlechter wurden verstanden als aufeinanderfolgende Stadien des Fortschritts. Das Weibliche müsse durch das Männliche, das sich in Produktivität und Industrialisierung äußere, überwunden werden. Mit dieser Konstruktion eines neuen (männlichen) Menschen ging eine Abwertung von sozialer Abhängigkeit und affektiver Bindung einher. Weiblichkeit und die Erfahrungen, die in ihr gespeichert werden, gingen in der Revolution verloren. „Damit blieb die Fähigkeit zu Fürsorge, Reproduktion, Zärtlichkeit, Abhängigkeit gesellschaftlich abgewertet“ (S. 172).

Während 1917 die universelle Männlichkeit das Ziel war, stellte 1968 eine differentielle Feminisierung in das Zentrum. Das Private sollte politisch werden. Die Verflüssigung und Auflösung verfestigter Verhältnisse führte zu einer Pluralisierung und Differenzierung von Lebensformen und -entwürfen. Während die Revolution von 1917 den Staat und die Totalität anrief, konzentrierte sich 1968 verstärkt auf das Individuum und seine persönlichen Entfaltungsweisen. Diese Öffnung ging einher mit Debatten um die Aufwertung von weiblich konnotierter Sorgearbeit und einem positiven Bezug auf Weiblichkeit. Die Beziehungsweisen vervielfältigten sich. Dieser befreiende Aspekt von 1968 wurde jedoch neoliberal okkupiert. Bedürfnisse nach Authentizität, Autonomie und Freiheit werden unter gegenwärtigen Verhältnissen verwertet und unter Schlagworten wie Spontaneität, Disponibilität und der Fähigkeit zur Bildung von Netzwerken als Anforderungen an die Akteure zurückgetragen. Das Ziel der Befreiung, das Kommunistische, so Adamczak, ging daher zweimal verloren: einmal in der Totalität, dann zwischen den Singularitäten.

Solidarische und revolutionäre Beziehungsweisen

Für Adamczak gilt es immer noch „die unabgegoltene Potenzialität der Geschichte hervorzuholen, die in den welthistorischen Revolutionswellen noch auf Aneignung wartet“ (S. 215). Dies versucht sie gewissermaßen im dritten Teil des Buches. Dort werden die Möglichkeiten und Inhalte erneuerter Beziehungsweisen angedeutet. Von einer gelungenen Revolution könne man nur dann sprechen, wenn „verfestigte Beziehungsformen, die gar nicht als solche erscheinen, zur Disposition gestellt werden“ (S. 245). Adamczak versteht dabei den Markt, den Staat oder die Nation, genau wie die Familie oder Freundschaftsbeziehung, als Formen, in denen sich  Menschen aufeinander beziehen. Die Revolution muss all die Formen verändern und durch solidarische Beziehungsweisen ersetzen.

Nachdem die Revolution von 1917 Gleichheit gefordert und 1968 die Freiheit auserkoren hatte, dreht sich nun alles um die Solidarität. Adamczak schlägt hierfür einen „universalistischen Feminismus aus strategischer Absicht“ (S. 247) vor. Eine zentrale Beziehungsweise, die in der befreiten Gesellschaft verändert werden muss, ist die zwischen Privatheit und Öffentlichkeit. Es muss darum gehen, die bisher abgewerteten Sphären der Reproduktion und der sozialen Beziehungen aufzuwerten: „Die Perspektivverschiebung vom Subjekt zur Beziehung erlaubt die Frage, wer wir sind, zu transformieren in die Frage, welche Beziehungen wir führen“ (S. 253) – und zukünftig führen wollen.

Gerade im letzten Teil wirkt das Buch noch etwas unfertig und offen. Zahlreiche Verweise auf die Kritische Theorie und den Poststrukturalismus tragen hierbei nicht zwingend zur Klärung des Sachverhalts bei, sondern zeichnen eher das Bild einer rein akademischen Auseinandersetzung. Dies fällt besonders ins Gewicht, da der erste Teil des Buches so wunderbar lesbar ist – ohne dabei auf inhaltliche Tiefe zu verzichten. Adamczak hat mit ihrem Buch einen Blick zurück gewagt und dabei den Blickwinkel so eingestellt, das Neues zu Tage getreten ist. Es ist zu hoffen, dass sie unter demselben Blickwinkel weiterdenkt und -schreibt, um das „und kommende“ des Untertitels noch vertiefend einzulösen.

  • Bini Adamczak: Beziehungsweise Revolution. 1917, 1968 und kommende. Edition Suhrkamp. 18 Euro.
  • Orlando Figes: Die Tragödie eines Volke: Die Epoche der russischen Revolution 1891 bis 1924. Berlin Verlag. Ab 26 Euro.

 

(Beitragsfoto: http://marx200.org)