Aus den Fragmentierungen der Gesellschaft soll der Kommunismus entstehen – und zwar jetzt. So die Forderung im neuen Buch des Unsichtbaren Komitees. Es zeichnet allerdings ein Bild von Innerlichkeit und der Suche nach Unmittelbarkeit.
Erschienen in Jungle World 40/2017
Viele Seiten braucht sie selten, diese bisweilen mythisch überhöhte Gruppe aus Frankreich, um mit ihren Texten nicht nur linke Debatten zu beeinflussen, sondern auch im bürgerlichen Feuilleton besprochen zu werden. Die Rede ist vom Unsichtbaren Komitee, dessen erste Publikation »Der kommende Aufstand« von 2007 wurde von der FAZ als das »wichtigste linke Theoriebuch unserer Zeit« bezeichnet. Ebenso wie dieses strotzt auch das neue Büchlein »Jetzt« auf seinen lediglich 125 Seiten vor revolutionärem Pathos, bildgewaltiger Sprache und einer guten Portion Polemik. Aus formaler und ästhetischer Sicht ist das Buch Genuss und Herausforderung zugleich.
Kontrovers besprochen und diskutiert werden aber sicherlich die Thesen des Buches. Sophie DeBris hat vergangene Woche den Anfang gemacht und dabei viel Richtiges gesagt. Weitere Wortmeldungen werden folgen. Um was geht es, was ist die Ausgangslage?
Understatement ist nicht die Sache des Komitees. Es kommt sofort zum Thema: Die Welt ist aus den Fugen. Grund hierfür sei ihre zunehmende Fragmentierung. Historische Einheiten wie der Staat, das Recht oder die Ökonomie würden in der Postmoderne nach und nach zerstört und hätten keine Bindungskraft mehr. Um die alten Einheiten zu wahren, griffen die Herrschenden zu immer drastischeren Mitteln. Die Fragmentierung des Rechts zum Beispiel zeige sich in Sondergesetzen gegen Terrorismus oder dem Ausnahmezustand, den Frankreich nun zum fünften Mal bis November verlängert hat. Darin gibt die französische Regierung Ermittlern und Polizisten besonders weitreichende Befugnisse. Eine paradoxe Entwicklung: Mit dem Ausnahmezustand werde versucht, die Normalität der Einheit zu bewahren. Der Ausnahmezustand werde zum Synonym für den Rechtsstaat.
Verstärkt werde die Fragmentierung zusätzlich durch jene, die sie eigentlich verhindern wollen. Die Prediger der Einheit tragen zur weiteren Spaltung bei. Trumps Make America great again sollte die Gesamtheit einer Nation mobilisieren. Das Resultat des Festhaltens an dieser nostalgischen Idee des starken Nationalstaats und des Heraufbeschwörens von Floskeln ohne Inhalt ist jedoch kein vereintes Land, sondern eine gespaltene Gesellschaft, die so von Konflikten durchzogen ist, dass in den USA selbst eine Behörde wie das FBI mehr oder weniger offen gegen den Präsidenten rebellieren – von den Kämpfen in der Zivilgesellschaft ganz abgesehen.
Interessant an der Beschreibung dieses Prozesses im Buch ist die veränderte Perspektive: Sieht die sozialdemokratische Seite solche Spaltungen als Bedrohung des Zusammenhalts, die orthodox-kommunistische Seite sie als Bedingung für die Revolution, beschreibt das Komitee vor allem den funktionalen Aspekt der Fragmentierung. Diese stabilisiere die Herrschaft und sei adäquater Ausdruck der derzeitigen Gesellschaftsorganisation, des digitalen Kapitalismus, in dem Informationen zur eigentlichen Ware Nummer eins werden. Ziel sei nicht mehr die fabrikmäßige Herstellung von Gütern und deren Verkauf, sondern die Organisation des Zugangs zu Wissen und Information. Aus den Informationen, die Menschen tagtäglich ins Netz stellen, wird Geld gemacht. Die Mehrwertproduktion läuft dem Komitee zufolge nicht mehr wie im klassischen Kapitalismus über Massenproduktion, sondern über die Verwertung von kostenlosen Daten und Informationen.
Beziehungen als Netzwerk
Von entscheidender Bedeutung hierfür ist den Autoren zufolge der Netzwerkcharakter der Beziehungen zwischen den fragmentierten Akteuren. Über die sozialen Netzwerke entstehe die Illusion einer falschen Einheit. Es werde das Gefühl vermittelt, man habe Zugang zur ganzen Welt. Die Filterblasen seien, so das Komitee, jedoch wind- und wasserdicht von anderen Realitäten abgeschottet und würden des weiteren zur Überwachung und zur Gewinnung von Daten genutzt. Eine perfekt fragmentierte Welt bleibe somit nach wie vor verwaltbar. Eine zersplitterte Welt sei folglich sogar die Bedingung für die »Allmacht jener, die die Kommunikationsmittel kontrollieren«.
»Jetzt« ist nicht das erste Buch, das sich mit diesen Entwicklungen beschäftigt. Was es jedoch von anderen unterscheidet, ist die fehlende Kritik: »Wir leben in einer Welt, die sich jenseits jeder Rechtfertigung eingerichtet hat. Kritik kann da nichts mehr ausrichten.« So grenzen sich die Autoren von Organisationen wie Gewerkschaften, Parteien wie Podemos oder Syriza, aber auch sozialen Bewegungen wie Nuit debout deutlich ab. Gemein sei all diesen, dass ihre Kritik automatisch vereinnahmt und absorbiert werde und damit implizit zur Stabilisierung des Systems beitrage. Ebenso verhalte es sich bei alternativen Wirtschaftskonzepten wie Genossenschaften oder sharing economy. Auch diese hätten den Kapitalismus nie wirklich herausgefordert.
Die Autoren schlagen daher ein anderes Verhältnis zur Wirtschaft und zu sozialen Bewegungen vor: ein Verhältnis der Feindschaft. Mit dieser auf Carl Schmitt zurückgehenden Definition der Politik als Unterscheidung zwischen Freund und Feind bleibt das Komitee wie gewohnt kompromisslos. Es gibt ihm zufolge nur zwei Möglichkeiten: mitspielen oder desertieren. Zwar muss man dem Kollektiv in diesem Zusammenhang immer und immer wieder dankbar sein für die Erinnerung, dass es den Gedanken an den zielsicheren revolutionären Bruch mit allem Bestehenden noch gibt, auf der anderen Seite verkennt es jedoch vollkommen die Freiräume, die soziale Bewegungen für die Politisierung von Menschen bieten können.
Der Ausweg aus der Fragmentierung liegt für das Komitee in der Fragmentierung selbst. Diese habe zwei Seiten, denn in ihr sei zugleich das Versprechen der Befreiung, gar das Versprechen des Kommunismus zu finden. Durch die Fragmentierung nähmen die »qualitative Bereicherung des Lebens, die Fülle an Formen« und die Möglichkeit unterschiedlicher Beziehungen und Verbindungen sowohl im persönlichen als auch politischen Kontext weiter zu. Man müsse sich organisieren und gemeinsam handeln. In militanten Aktionen könne man den Kommunismus bereits erahnen; dieser sei das gemeinsame Erlebnis neuer Beziehungen im militanten Handeln. Wichtig sei, dass der Kommunismus im alltäglichen Kampf gelebt, in konkrete Erfahrungen der Handelnden übersetzt werde. Viel konkreter wird es leider nicht.
Das schöne, idyllische Reich der Unmittelbarkeit, das das Komitee in »Der kommenden Aufstand« noch in der Gründung von Kommunen gesehen hat, erscheint hier in neuem Gewand und wird in die Unmittelbarkeit militanter Aktionen verlagert. Deren regressive Folgen sowie der Fokus auf Leben und Lebendigkeit wird an keiner Stelle problematisiert.
Der Bruch muss total sein
In dieser engen Verbindung von Leben, Unmittelbarkeit und Kommunismus geht einiges verloren. Wenn das Komitee fordert, den »Kommunismus als Teil des Lebens« zu begreifen und das »Wesentliche« auf »der Ebene des Kleinen« zu sehen, ist das richtig und falsch zugleich. Richtig, wenn man den Fokus erweitert und als Kommunist nicht nur die objektiven gesellschaftlichen Bedingungen betrachtetet, sondern auch die Erfahrungsebene der Subjekte einbezieht. Falsch, wenn man durch den Fokus auf die Innerlichkeit und die Suche nach dem Eigentlichen und Wesentlichen die großen Zusammenhänge und Widersprüche vergisst.
In seinem revolutionären Eifer ist das Unsichtbare Komitee davor nicht gefeit. Der Bruch und der Konflikt mit dem Bestehenden müssen total sein. Und alles muss jetzt und hier geschehen, wie der Titel des Buchs unschwer erkennen lässt. Warten wäre Verrat. Statt für die Hoffnung auf ein vermeintlich besseres Morgen plädiert das Komitee für sofortige Handlung. Auch wenn dies durchaus sympathisch klingt, bleibt die Frage offen, wer denn diese handelnde linksradikale Bewegung bilden soll, wenn das Komitee selbst die durchaus radikalen Proteste von Nuit debout in Frankreich der Komplizenschaft beschuldigt. Ebenso muss es sich die Frage gefallen lassen, wen es mit seiner bildreichen und alles andere als niedrigschwelligen Sprache erreichen will – und wen es von vornherein ausschließt.
Die Frage des Kommunismus bleibt »das Herz der Zeit«. Vielleicht bringt das Unsichtbare Komitee dem einen oder der anderen mit dem Buch den Kommunismus näher. In die Köpfe und das Denken dringt der Text allerdings schwerer vor. Der Kommunismus sollte jedoch beides berühren, denn er ist nicht nur Leben und Lebendigkeit, sondern auch Kampf, Auseinandersetzung, Theorie und Reflexion. Zudem kann der Kampf für den Kommunismus – 100 Jahre nach der Russischen Revolution sollte das klar sein – tödlich verlaufen. Wenn der Kommunismus auf geradezu existentialistische Weise ins Eigentliche und Unmittelbare verlagert wird, ist nicht viel gewonnen. Kommunismus ist mit diesem Buch nicht zu machen.