Ziemlich vermessen

Listen, Likes, Liquidationen: Der Hunger nach Daten wird immer größer, schreibt Steffen Mau. Alles wird bewertet. Doch Widerstand ist möglich. Ein Gespräch mit dem Soziologien Steffen Mau zu seinem Buch „Das metrische Wir“. Darunter versteht er den steigenden Bedeutungszuwachs von Daten und Indikatoren, mit denen wir die Gesellschaft durchdringen, neu vermessen. Das geht bis zur Selbstvermessung, wenn Menschen anfangen, mit dem Handy ihre Schritte zu zählen.

Erschienen in Der Freitag 31/2017

Herr Mau, was ist schlimm daran, wenn Menschen ihre Schritte zählen?
Dieser Fokus auf die Daten führt zu neuen Formen von Wettbewerb, führt zu gesellschaftlichen Hierarchien, die sich verstärkt an Zahlen festmachen.

Von Haus aus sind Sie Soziologe mit Schwerpunkt Ungleichheitsforschung. Was war der Anlass, sich nun mit Ratings, Hotelbewertungen und Körperoptimierungsapps auseinanderzusetzen?
Als Ungleichheitsforscher bin ich daran interessiert, wie gesellschaftliche Hierarchien hergestellt und reproduziert werden. Und da sieht man nun einfach, dass durch diese neuen Möglichkeiten, auf Daten zuzugreifen, sie zu verknüpfen und zu verwerten, ganz neue Formen von Ungleichheit entstehen. Als numerische Differenzen gewissermaßen. Daten werden zu Unterscheidungszeichen, die neue Wertigkeiten erzeugen. In dieser Ordnung taucht dann nur noch auf, was anhand der Daten gemessen werden kann. Alles andere spielt keine Rolle.

Gleichzeitig schreiben Sie, dass die Quantifizierung nicht nur ein Abbild der Gesellschaft ist, sondern auch selbst Realität herstellt. Was meinen Sie damit?
Wir betrachten Daten immer als etwas Neutrales und Objektives. Ich möchte betonen, dass alle Daten normative Ordnungen, politische Vorstellungen und Interessen in sich aufnehmen. Dies wird jedoch häufig verschleiert.

Zum Beispiel?
Denken Sie an den Glauben an das Bruttoinlandsprodukt oder an die Bedeutung der Zitationsmessung in der Wissenschaft. Dieses Vermessen des Sozialen zieht sich durch alle Bereiche. „Vermessen“ hat im Deutschen ja drei verschiedene Lesarten. Es kann sowohl bedeuten, etwas in seinen Maßen festlegen, kann aber auch heißen, etwas falsch zu messen, und drittens kann „vermessen“ auch bedeuten, etwas ist nicht angebracht. Innerhalb dieser drei Perspektiven versuche ich, den Prozess der Quantifizierung zu verstehen und zu interpretieren.

Dabei greifen Sie auf alltägliche, auch popkulturelle Beispiele zurück. Ist dies eher der Thematik des Buchs geschuldet oder dem Versuch, aus dem akademischen Bereich herauszutreten?
Ich wollte über einen gesellschaftlichen Megatrend schreiben, der uns alle angeht, und zeigen, was die Soziologie dazu zu sagen hat. Ich werde jetzt von Leuten angesprochen, die teilweise aus technischen Bereichen oder der Informatik kommen und sagen, dass sie die Verbindung zwischen Daten und Gesellschaft bisher noch nicht hinreichend reflektiert haben.

Welche Folgen hat das für das alltägliche Handeln der Menschen?
Das Feld der Gesundheit ist hier besonders interessant. Früher gab es ein geschütztes Verhältnis zwischen Patient und Arzt. Heute hat man durch den Zugriff auf Gesundheitsdaten, von Bewegungs-, Schlaf-, Ernährungsdaten bis hin zu Daten des emotionalen Zustandes unglaubliche Möglichkeiten, auf Individuen zuzugreifen. Das wird dann spannend für die Medizin, aber auch für Krankenkassen oder das betriebliche Gesundheitsmanagement. Es wurden schon erste sogenannte Gesundheits-Scores eingeführt. Damit verändert sich auch unser Bild von Gesundheit. Es verschwindet der kategoriale Gegensatz zwischen gesund und krank. Gesundheit wird mehr und mehr anhand einer kontinuierlichen Skala abgebildet – sie wird ein Gut, von dem man nie genug haben kann. Je besser man abschneidet, desto größer sind Vergünstigungen der Krankenkasse. Solche Skalen haben unmittelbaren Einfluss auf die Menschen, weil die sich dann überlegen, ob sie am Abend noch zwei Gläser Wein trinken oder doch lieber joggen gehen. Solche Entscheidungen können dann durch Bonus- und Malusprogramme monetäre Konsequenzen haben.

Sie sehen ein Netzwerk wechselseitiger Sozialkontrolle, das richtiges Verhalten belohnt und falsches bestraft. Das klingt nach Orwell. Sind wir auf dem Weg in die Bewertungs-Dystopie?
Das Ideal der Transparenz geht natürlich dahin, in allen Lebensbereichen Daten zu erfassen und zu vergleichen. Und wenn es technologisch so einfach ist, an die Daten zu gelangen und diese dann weiterverkauft und neu verbunden werden, ergeben sich ganz neue Möglichkeiten. Daraus entsteht dann so etwas wie eine Totalprotokollierung des Lebens mit allen problematischen Folgewirkungen.

Mit Quantifizierung ist aber auch ein Gewinn an Transparenz verbunden. Wir wissen, auf was wir uns einlassen. Geht es überhaupt ohne Quantifizierung?
Ich bin ja kein Kulturpessimist. Daten sind natürlich ein erheblicher Schatz, durch den mehr Wissen entstehen kann. Wissenschaft, Politik und Ökonomie: Sie alle sind auf Daten angewiesen. Aber es ist immer eine ambivalente Situation. Bewertungsplattformen sind sicherlich notwendig und gut, gleichzeitig ist jedes Rating natürlich nicht identisch mit dem, was Sie wissen wollen. Ob ein Bewertungsranking über Ärzte wirklich die fachliche Qualifikation misst oder nicht doch eher die Freundlichkeit des Personals oder die Wartezeiten, ist eine andere Frage.

All diese Prozesse werden auch durch die Digitalisierung vorangetrieben …
Die Digitalisierung hat den Quantifizierungsmöglichkeiten auf jeden Fall neuen Schub gegeben. Daten werden immer mitproduziert. Das ist ein Qualitätssprung. Ebenso spielen aber Ökonomisierung und auch die Mitmachbereitschaft des Publikums eine große Rolle.

Woher kommt dieser Wille mitzumachen?‘
Die Erhebung der Daten ist ja nie spürbar. Sie stimmen AGB zu und schon werden Daten erhoben. Ebenso bleibt die Verwertung der Daten diffus. Es geschieht alles mehr oder weniger beiläufig im gesellschaftlichen Normalbetrieb. Sie brauchen keine zweite Kontrollschicht. Zudem haben Individuen auch selbst Interesse an ihren Daten, um sich stärker zu steuern oder zu optimieren.

Gibt es trotzdem Widerstand? Was kann der Einzelne tun?
Es gibt einzelne Punkte, an denen man ansetzen kann. Es gibt Forscher, die Algorithmen schreiben, die wiederum Algorithmen kontrollieren. Es gibt auch die Möglichkeit mit Indikatorensystemen zu spielen und diese zu unterlaufen oder zu karikieren. Der Großtrend hat aber, so glaube ich, eine relativ große Durchsetzungskraft. Letztlich sind die Zivilgesellschaft und auch der Gesetzgeber gefragt, dort für Transparenz zu sorgen, damit die Bewertungsmaschinen nicht außerhalb jeglicher Kontrolle bleiben.

Der Widerstand gegen Zahlen wird also mithilfe von Zahlen geführt?
Natürlich kann es auch Aussteiger, Randgestalten der digitalen Welt, geben. Ich beobachte aber eher eine Hinnahmebereitschaft, auch bei Leuten, die eine kritische Grundeinstellung haben. In der Wissenschaft kann man das gut beobachten. Zitationsindizes werden zwar oft kritisiert, da allen klar ist, dass sie zu vereinfachend sind. Trotzdem spielen alle mit. Es gibt ein kaltes Charisma, eine magische Macht der Zahlen. Sie bergen die Möglichkeit, Ordnung in die Dinge zu bekommen und Ränge zu bilden. Selbst komplexe Sachverhalte erscheinen nun einfach und klar.

Diese Bewertung und Verwertung findet man ja im Kapitalismus per se angelegt. Der Trend der Quantifizierung zeigt sich in der ständigen Notwendigkeit der Akkumulation.
Ich stimme zu. Es geht nicht nur um Wertigkeit, sondern eben auch um Verwertung. Auch wir selbst sind aufgefordert, uns dauernd selbst zu verwerten. Andererseits findet man diesen Trend der Quantifizierung aber auch in Ländern, die nicht die Speerspitze des Kapitalismus sind. Es ist ein globaler Prozess, der sich verbreitet, aber natürlich mit Fragen der Akkumulation zu tun hat.

Zwei Prozesse, die parallel laufen, sich aber nicht notwendigerweise bedingen?
Ja, genau.

Diese Selbstverwertung wird ja auch schon in der Kritischen Theorie verhandelt. Adorno oder Lukács sucht man jedoch vergebens in Ihrer Literaturliste.
Ich wollte das Buch ohne engere theoretische Voreinstellung schreiben, es einem breiteren Leserkreis erschließen. Viele Phänomene sind den Menschen ja aus ihrem Alltag bekannt. Ich wollte mit einer eigenen soziologischen Perspektive auf das Thema zugehen und nicht gleich das Label „kritisch“ anheften. Ich möchte zeigen, dass Daten und Zahlen oft eben nicht objektiv sind, sondern selbst schon Resultat von Wertentscheidungen. Das Leben nach Zahlen ist gewissermaßen auch immer ein ökonomisch verwertbares Leben.

Zur Person

Steffen Mau wurde 1968 geboren. Er ist Professor für politische Soziologie an der Humboldt-Universität zu Berlin. Das metrische Wir. Über die Quantifizierung des Sozialen ist im Suhrkamp-Verlag erschienen, hat 308 Seiten und kostet 18 Euro

 

 

(Beitragsfoto: http://www.suhrkamp.de)