Gewalt Brennende Autos und zerschlagene Scheiben sind Taten linker „Chaoten“, heißt es. Doch die Militanz hat einen ernsthaften Kern
Erschienen in Der Freitag 13/2017
Wenn bei einer Demonstration Mülltonnen rauchen oder Schaufenster einer Bank zu Bruch gehen, wenn ein Castor blockiert oder zivile Mittelklassewagen angezündet werden, sind die Kommentatoren sich meist sofort einig: ein Akt von sinn- und zielloser Zerstörung, Gewalt, die im politischen Raum nichts zu suchen habe. Erst vor wenigen Tagen haben die Sicherheitsbehörden in Hamburg Alarm geschlagen: Zum G20-Gipfel am 7. und 8. Juli in der Hansestadt rechnet die Polizei mit 4.000 gewaltbereiten Autonomen und stellt für das Konferenzwochenende 14.000 Beamte bereit. In Blogs der radikallinken Szene wird unterdessen gar über 8.000 Demonstranten spekuliert, von denen manche angeblich auch aus dem Ausland, aus Frankreich, Griechenland, Italien und Skandinavien anreisen wollen, um die „rote Zone“ des Hamburger Gipfels gegebenenfalls mit Gewalt zu stürmen.
Bei der Schelte gegen – tatsächlich ausgeübte oder nur behauptete – linke Militanz geht es um die klare Abgrenzung der Werte von Toleranz und Gewaltfreiheit von sogenannten Chaoten, die den liberalen Rechtsstaat und die freiheitlich-demokratische Grundordnung zerstören wollten. Wobei man zwischen Angriffen auf Menschen und auf Sachen unterscheiden muss. Denn Gewalt gegen Sachen gibt es im strengen Sinne nicht, der angemessene Begriff und der Straftatbestand lauten Sachbeschädigung. In der allgemeinen Medien- und Behördenrhetorik wird Gewalt jedweder Art jedenfalls immer als etwas verstanden, das mit Demokratie und Rechtsstaat unvereinbar ist.
Doch dieser idealistischen Vorstellung einer Gesellschaft, die ohne Gewalt auskommt, steht die Gewalt der Polizei, des Militärs, der Justiz oder der Psychiatrie gegenüber. Alle, die schon mehrmals die Miete nicht bezahlen konnten und aufmerksam verfolgt haben, wie Zwangsräumungen vonstatten gehen können, alle, die bei einer Demonstration schon einmal das Tränengas der Polizei in die Augen bekamen, wissen, dass auch der demokratische Rechtsstaat regelmäßig auf Gewalt zurückgreift, um die bestehenden Verhältnisse aufrechtzuerhalten.
Das gespannte Verhältnis von struktureller Gewalt des Staates auf der einen und dem gewaltsamen Widerstand auf der anderen Seite ist nicht neu. In der politischen Linken wird es seit langem diskutiert. So haben sich etwa Walter Benjamin und Herbert Marcuse ausgiebig mit der Frage der Gewalt als legitimes oder fragliches politisches Mittel beschäftigt, mit unterschiedlichen Ergebnissen. Nachdem kürzlich eine linksautonome griechische Gruppe, die sich „Verschwörung der Feuerzellen“ nennt, Briefbomben an das Finanzministerium in Berlin und den IWF in Paris geschickt hatte und eine dortige Mitarbeiterin im Gesicht verletzt wurde, nimmt die alte Diskussion nun wieder Fahrt auf.
Von den 68ern und der RAF …
Walter Benjamin verwies bereits 1921 in seinem Essay Zur Kritik der Gewalt darauf, dass für den liberalen Rechtsstaat nicht die Gewalt per se das Problem darstelle – sondern das Ausüben von Gewalt durch jene, die außerhalb des Gewaltmonopols des Staates handeln. Doch auch diese Gewalt, die sich außerhalb des Monopols zum Beispiel in einem Generalstreik äußern kann, bleibt, schreibt Benjamin, notwendigerweise an das jeweils gegebene Rechtssystem gekoppelt: Entweder sie kämpft für den Erhalt des Rechts, oder sie zersetzt das bestehende Recht, etwa wenn sie in eine Revolution mündet. Jedoch sei die revolutionäre Gewalt nicht davor gefeit, neues Recht zu setzen. Die Linke, welche die Revolution als „Tigersprung unter dem freien Himmel der Geschichte“ vorantreiben wolle, bleibe in einem Kreislauf aus Gewalt, Rechtsetzung und Herrschaft (etwa durch die Gefahr eines neuerlichen Umsturzes) verhaftet. Endgültige Gerechtigkeit könne allein durch Gewalt nicht entstehen, sagt Benjamin.
Anders interpretiert sie Herbert Marcuse vor dem Hintergrund der Umbrüche um 1968. Für ihn gibt es ein Naturrecht auf Widerstand und Gewalt der Unterdrückten, „nicht für persönlichen Vorteil und aus persönlicher Rache, sondern weil sie Menschen sein wollen“. Auch wenn Marcuse das Naturrecht in Anführungszeichen setzt, sieht er im Hass auf die Ausbeutung und in der gewaltsamen Gegenwehr ein humanistisches Element. Für ihn kann es keine Befreiung ohne Hass und die daraus folgende Gewalt geben.
Hier lassen sich dann auch – zumindest implizite – Bezugnahmen auf Marcuse sowohl bei den 68ern als auch im Kontext der RAF sowie in Debatten der heutigen radikalen Linken finden. Die Frage, die sich dabei gegenwärtig herauskristallisiert: Inwieweit kann Protestgewalt legitim sein, wenn sie heute doch kaum noch an die Erwartung eines revolutionären Umsturzes gekoppelt ist, sondern der Widerstand vor allem von globalpolitischer Hoffnungslosigkeit geprägt ist?
Angriffe auf Menschen – etwa auf Asylbewerberheime – schienen in den vergangenen Jahren eher von rechts gekommen zu sein, oder sie werden von liberalismusfeindlichen islamistischen Terroristen verübt. Doch neuerdings werden Handgreiflichkeiten auch von links öfters thematisiert und zum Beispiel in den sozialen Medien diskutiert, teils mit erstaunlich viel Verständnis. 2016 wurden Sahra Wagenknecht, Beatrix von Storch und Thilo Sarrazin jeweils mit einer Torte angegriffen. Etwas handfester ging es in den USA zu: Am Rande der Amtseinführung von Donald Trump wurde der Vorsitzende der rechtsextremen Alt-Right-Bewegung Richard Spencer von einem linken Demonstranten vor laufender Kamera angegriffen. Wenige Tage später machte der Schauspieler David Harbour auf sich aufmerksam. Bei einer Rede anlässlich der SAG-Awards äußerte er sich unmissverständlich: „Wir werden manchen Menschen ins Gesicht schlagen, die versuchen, die Sanftmütigen, die Entrechteten und die Randständigen zu vernichten. Und wir werden das aus ganzem Herzen und mit Freude tun.“
Der Widerspruch gegen solche verbalen Gewaltaufrufe fällt derzeit selbst in der (links-)bürgerlichen Öffentlichkeit gering aus. Woher rührt dieses aktuelle Verständnis von Gewalt? Womöglich aus der inhaltlichen Defensivhaltung der Linken. Ihr Protest konzentriert sich seit geraumer Zeit auf reine Abwehrkämpfe. Mittlerweile geht es selbst für radikale Linke letztlich darum, einen liberalen Konsens zu verteidigen: Asylbewerberheime werden beschützt, es wird gegen Freihandelsabkommen wie TTIP demonstriert. Eine positive linke Gegenerzählung gibt es aktuell nicht.
Militante Aktionen bieten immerhin eine Möglichkeit, die Sichtbarkeit für linke Politik zu erhöhen und wenigstens für Momente aus einer bloß passiven Rolle herauszukommen. Das geflügelte Wort „Steine sind keine Argumente“ bekommt spätestens bei der Verteidigung von selbstverwalteten Hausprojekten oder der Verhinderung von Naziaufmärschen eine andere Tönung. Falsch wäre unter gegenwärtigen Bedingungen jedoch eine überzogene Hoffnung auf die Gewalt. Sie kann aktuell keinen Bruch mit der bestehenden Ordnung darstellen – sondern verbleibt überwiegend auf einer symbolischen Ebene, auf der Entscheidungs- und Handlungsfähigkeit der (überwiegend männlichen) Akteure beweisen werden können.
In diesem Zusammenhang läuft Militanz immer Gefahr, Event zu bleiben und als Spektakel genossen – oder gar als Fetisch verdinglicht zu werden, wie es in der Schrift Der kommende Aufstand (Nautilus 2010) geschieht, die ein französisches „Unsichtbares Komitee“ herausgab und die auch in bürgerlichen Feuilletons von der FAZ über die taz bis zur New York Times ausführlich besprochen wurde. Zum Beispiel die mittlerweile ritualisierte Gewalt zum 1. Mai oder die jüngsten griechischen Briefbomben: Sie können als etwas Fetischhaftes gefasst werden, denn trotz aller berechtigten Kritik, die man an der von IWF und Bundesfinanzministerium betriebenen Austeritätspolitik haben kann, verbleiben solche Taten auf der Ebene der Symbolik beziehungsweise des individuellen Terrors.
… bis zur „Eventisierung“
Trotz aller gegenwärtigen „Eventisierung“ kann sich militante politische Auseinandersetzung durch eine doppelte Ernsthaftigkeit auszeichnen. Zum einen wird durch die Gewalt die Annahme des Einverstandenseins mit der gegenwärtigen Gesellschaft unmissverständlich aufgebrochen: Gewalttätige Handlungen versagen jener Gesellschaft radikal die Komplizenschaft. Sie halten die Differenz zum Bestehenden aufrecht, auch um eine mögliche Integration in einen erneuerten „Aufstand der Anständigen“ zu verhindern. Zum anderen kann die Linke durch Militanz ihre in Teilen gepflegte Opferrolle ablegen, sie kann mit der Verherrlichung der eigenen Verwundbarkeit brechen – und Momente generieren, die zeigen, dass die herrschenden Verhältnisse selbst verwundbar sind.
Die Ablehnung jeglicher Gewalt mit dem Argument, sie sei „moralisch böse“, verstärkt jedenfalls die Verschleierung der systemischen Gewalt, die in kapitalistischen Gesellschaften alltäglich herrscht und zahlreiche Opfer fordert, von den Toten im Mittelmeer bis zu Obdachlosen in den Metropolen. Gewalt kann (oder muss) unter bestimmten historischen Bedingungen ein Mittel im politischen Kampf darstellen. Aber: Gerechtigkeit lässt sich nicht mit ihr allein und schon gar nicht automatisch herstellen. Der Kreislauf der Herrschaft muss nicht nur unterbrochen, es muss auch eine neue, radikalere Form der Demokratie entwickelt werden.
Das Enfant terrible der Gegenwartsphilosophie, Slavoj Žižek, schreibt am Ende seines Buchs Gewalt. Sechs abseitige Reflexionen (Laika 2011): „Manchmal ist nichts zu tun die äußerste Gewalt.“ Der Satz kann auf zweifache Weise interpretiert werden. Zum einen muss er als Kritik an all denen verstanden werden, die das bestehende Unrecht hinnehmen und es damit verfestigen. Zum anderen kann es als Kritik derer gelesen werden, die glauben, durch blinden Aktionismus grundlegende Änderung herbeiführen zu können.
Vielleicht ist die revolutionärste Gewalt aktuell nicht in brennenden Autos oder Briefbomben zu suchen, sondern in der kollektiven Weigerung, weiter unter den gegebenen gesellschaftlichen Spielregeln mitzuspielen. Sabotage durch Verweigerung könnte eine Stoßrichtung sein. Wenn es gelingt, dies mit den Ideen von Freiheit, sozialer Gleichheit und Demokratisierung zu verbinden, statt in eine regressive Kultur- und Modernekritik zu verfallen, kann Gewalt progressiv wirken.