Renaissance gewerkschaftlicher Zeitpolitik?

Für Gewerkschaften ist Zeitpolitik neben Forderungen nach Entlohnung ein zentrales Feld der Auseinandersetzung

Erschienen in Zeitpolitisches Magazin 29/2017, S. 5-7.

Einleitung

Für Gewerkschaften ist Zeitpolitik neben Forderungen nach Entlohnung ein zentrales Feld der Auseinandersetzung. Verschiedene Arbeiten beschäftigten sich bereits mit unterschiedlichen Formen gewerkschaftlicher Zeitpolitik (Bogedan et al. 2015, Steinrücke et al. 2001; Schwitzer et al. 2010). Anschließend an diese Analysen sollen hier unterschiedliche Zeitpolitiken der Gewerkschaften in der Bundesrepublik be- schrieben werden. Der Fokus liegt auf der Gewerkschaft ver.di, da dort, neben der IG Metall, aktuell Arbeitszeit als zentrales Element gewerkschaftlicher Zeitpolitik breit verhandelt wird. Für ver.di spricht ebenso die Zunahme des Dienstleistungssektors und der damit verbundene ökonomische Wandel. Auf Grundlage der Betrachtung der Zeitpolitik bei ver.di werden am Ende zeitpolitische Implikationen für die Gewerkschaften entwickelt und ein Ausblick gegeben, wie eine zukünftige Zeitpolitik zu gestalten ist.

Produktionsverhältnisse im Wandel

Ausgangspunkt der Analyse bildet der Fordismus als herrschendes Produktionsverhältnis in der BRD nach dem zweiten Weltkrieg mit dem zentralen Normalarbeitsverhältnis (NAV). Kennzeichen war der Fokus auf industrielle Produktion mit festen und sicheren Arbeitsformen und Hierarchien. Das NAV (Mückenberger1985) war tariflich abgesichert, sozialversicherungspflichtig, unbefristet und hatte geregelte Arbeitszeiten. Betriebe zeichneten sich durch eine große männliche Kernbelegschaft aus. Gerahmt war dieses Verhältnis durch Absicherungen und einen korporatistischen Sozialstaat. Gerade auch aus geschlechtlicher Perspektive, aber auch für Menschen mit keiner oder schlechter Ausbildung sowie Migrant_innen führte das NAV jedoch immer auch zu Ausschlüssen. Die Gewerkschaften passten sich dieser Formation an. Es war für sie relativ leicht, in den männlich geprägten Großbetrieben hohe Organisationsgrade zu erreichen und konstant neue Mitglieder zu werben.

Seit den 90ern wird nun vermehrt von Flexibilisierung und Individualisierung gesprochen, um die Veränderungen auf dem Arbeitsmarkt zu beschreiben. Das Prinzip der Sozialpartnerschaft wird verringert, Unternehmensziele die sich am Finanzmarkt orientieren, gewinnen an Legitimität. Der Anteil des tertiären Sektors steigt an und das NAV ist immer weiter auf dem Rückzug. Die bunteren Belegschaften führen zu einer größeren Interessenheterogenität auf welche die Gewerkschaften reagieren müssen (Bogedan 2015).

Arbeitszeit und gewerkschaftliche Reaktionen

Mit dieser Diversifizierung der Arbeitsgestaltung veränderten sich auch die Arbeitszeitformen. Über 60 % der Beschäftigten arbeiten in Vollzeit (35 oder mehr Stunden). Die durchschnittlich geleistete Wochenarbeitszeit nimmt jedoch ab. Zwischen 1992 und 2012 sank sie um 6,8 % von 38,1 auf 35,5 Stunden (vgl. DGB 2014). Dies ist allerdings auf den starken Anstieg der Teilzeitarbeit zurückzuführen. Er liegt bei 34 % und in diesem Bereich sind überwiegend Frauen beschäftigt. Männer arbeiten durchschnittlich 39,8 Stunden pro Woche; Frauen 30,5. Diese Differenz ist in Deutschland eine der höchsten in Europa. Hierdurch werden geschlechtsspezifische Pfadabhängigkeit (Nachteile beim Einkommen; Renten etc.) verstetigt. Vollzeitbeschäftigung ist weiterhin das Leitbild, jedoch arbeiten „neben den 24,5 Millionen Menschen in Vollzeit auch 14,8 Millionen in Teilzeit“ (Bogedan et al.: 20).

Dies beschäftigt auch die Gewerkschaften. Dort wurden Anfang des Jahrtausends wieder verstärkt Debatten zum Thema Arbeitszeit geführt. Ver.di startete 2003 die Initiative „Nimm dir die Zeit“. Der Ansatzpunkt war „ein umfassendes, gesellschaftliches, politisches und kulturelles Konzept“ (Sterckel 2004: 80) zu entwickeln. Debatten um Arbeitszeit sollten geschlechterdemokratisch, gesundheitsschützend, beschäftigungssichernd sowie beteiligungs- und prozessorientiert sein. Auf Grund der großen Heterogenität der Berufsgruppen und Interessen in ver.di stand die Initiative bald vor vielfältigen Problemen und konnte nicht die nötige Tiefenwirkung ausstrahlen.

Aktueller Stand der Debatten bei ver.di

2014/2015 wurde das Thema Arbeitszeit mit neuer Intensität sowohl in Politik, Zivilgesellschaft als auch Wissenschaft diskutiert. Hartmut Seifert sprach gar von einer „Renaissance der Arbeitszeitpolitik“ (Seifert 2014). Bei ver.di wurde im Vorlauf auf dem Bundeskongress 2015 in Leipzig eine Umfrage unter Funktionär_innen durchgeführt, die sich mit Arbeitszeitverkürzung beschäftigte. Das Ergebnis war, „dass kollektive Arbeitszeitverkürzung in der klassischen Form derzeit nicht als mobilisierungsfähig angesehen wird“ (Wiedemuth/Skrabs 2015: 40). Für einen Beschluss auf dem Bundeskongress musste diese Forderung modifiziert werden. Im Leitantrag A108 wurde somit als neues Leitbild die „kurze Vollzeit bei vollem Lohn- und Personalausgleich“ beschlossen. Hiermit ist ein „einheitliches Arbeitszeitgestaltungskonzept gemeint, dass auch den Teilzeitbeschäftigten einen größeren Einfluss auf ihre Zeitgestaltung“ (ver.di 2015: 29) ermöglicht. Grundsätzlich geht es darum, die Arbeitszeit von Vollzeitbeschäftigten so zu senken, dass die Arbeitszeit von Teilzeitbeschäftigten steigen kann. „Es handelt sich also um eine solidarische Arbeitszeitpolitik für Vollzeit- und Teilzeitbeschäftigte. Die differenzierten Zeitinteressen beider Beschäftigungsgruppen werden berücksichtigt“ (ebd.).

An dieses Modell schließen der Leiter der tarifpolitischen Grundsatzabteilung Jörg Wiedemuth und seine Kollegin Sylvia Skrabs an und arbeiteten parallel ein Konzept aus, das eine Arbeitszeitverkürzung von 14 Arbeitstagen pro Kalenderjahr enthält. Damit könnte „an die verschiedenen Lebenssituationen und Herausforderungen der Beschäftigten“ (Wiedemuth/Skrabs: 41) angeknüpft werden. Der scheinbare Widerspruch zwischen kollektiver Regelung und individuellen Erwerbsläufen könnte aufgehoben werden: Über die kollektiv geregelten 14 Tage kann individuell über verschiedene Gestaltungsoptionen (ganze Tage, Freizeitblöcke etc.) im Jahresverlauf verfügt werden. Auf Grund der kurzen Vorbereitungszeit auf den Kongress wurde der Vorschlag dort nicht behandelt, soll aber in die zukünftigen Debatten in ver.di einfließen. Ein Umdenken der Gewerkschaften scheint also möglich. Zum einen wurde die Gewerkschaftsbasis von Anfang an in den Prozess integriert und zum anderen wird veränderten Produktionsverhältnissen mit dem Versuch Rechnung getragen, individuelle Bedürfnisse von Beschäftigten und kollektive Sicherungsmaßnahmen miteinander zu verbinden. Hier aus ergibt sich die Chance, neue Gruppen anzusprechen und verschiedene Interessen zu vereinen. Die aktuelle Arbeitszeitkampagne der IG Metall „Mein Leben – meine Zeit: Arbeit neu denken“ scheint genau dies zu berücksichtigen und verortet ihre Kampagne bewusst sowohl in den Betrieben als auch in der Öffentlichkeit und im politischen Feld (IG Metall 2016).

Vorschläge für alternative Zeitpolitik der Gewerkschaften

Damit zusammenhängend braucht es neue Leitbilder über Arbeit und Zeit und Diskussionen, wie Bereiche, die nicht unmittelbar an Erwerbsarbeit gebunden sind, zu stärken sind. Frigga Haug (2008) bietet mit der „Vier-in-einem-Perspektive“ ein aktuelles Angebot hierfür an. Es geht ihr um die gleichwertige Anordnung der vier Tätigkeitsbereiche Erwerbsarbeit, Reproduktion, Kultur und Politik und damit um eine Aufwertung bisher unbezahlter Arbeit, mehr Selbstbestimmung sowie Arbeitszeitverkürzung. Die Kombination von kürzerer Arbeitszeit und stärkerer Anerkennung reproduktiver Tätigkeiten berührt Geschlechter- und Produktionsverhältnisse und steht „der Logik kapitalistischer Modernisierung im Weg – viel mehr als jede noch so hohe Lohnforderung“ (Auer et al. 1990: 75). So verstanden ist Zeitpolitik von Gewerkschaften mit vielfältigen Formen flexibler Arbeitszeitgestaltung im Sinne der Beschäftigten „die Grundbedingung für alle möglichen Erweiterungen des Betätigungsspielraums lebendiger Arbeitskraft“ (Negt 1987: 78). Gewerkschaftliche Arbeitszeitforderungen müssen „in den Kontext von erfahrbaren größeren individuellen Zeitwohlstand“ (Sterckel/Wiedemuth 2007: 219) gestellt und individuelle Bedürfnisse und das Recht auf die eigene Zeit mitgedacht werden.

Wird Zeitpolitik von den Gewerkschaften als solch umfassendes Projekt kommuniziert, kann es hegemonial und wirk-mächtig werden: Unter dem Dach gewerkschaftlicher Zeitpolitik könnten sich klassische Probleme der Industriegesellschaft, aber auch von Dienstleistungsberufen zusammenfassen und verbinden lassen. Wenn diese Vereinigung klappt, rührt al-ternative und erneuerte Zeitpolitik der Gewerkschaften

an Grundausstattungen der bestehenden Herrschaftsordnung (…) Der Kampf um Arbeitszeitverkürzung ist ein politischer Kampf. (…) Gewerkschaften, die sich auf diesen Kampf ernsthaft einlassen und ihn erfolgreich führen wollen, werden langfristig gezwungen sein, das politische Spektrum ihrer Kampf-formen wesentlich zu erweitern“ (ebd.: 19).

Es ist also entscheidend, Diskussionen um Zeit aus der ökonomischen Verengung herauszuholen und Zeitpolitik als kapitalismuskritische Gesellschaftspolitik zu verstehen, die das „Ganze Leben“, also auch Fragen von Freizeit, Familiengestaltung oder Geschlechterbeziehungen radikal betrifft und verändern will. Radikal als das Problem an der Wurzel fassend.

Literatur:

Auer F. et al. (1990): Auf der Suche nach der gewonnenen Zeit. Mössingen-Thalheim.

Bogedan, C. (2015): Individuelle Erwerbsverläufe und kollektive Absicherung – die Debattenlandkarte. In: spw – Zeitschrift für sozialistische Politik und Wirtschaft, 206. 36 – 37.

Bogedan, C. et al. (2015): Gerechte Zeiten? Arbeitszeitpolitische Wende! In: ebd. 19 – 23.

DGB (2014): DGB-Index Gute Arbeit. Berlin.

Haug, F. (2008): Die Vier-in-einem-Perspektive. Hamburg.

IG Metall (2016): Mein Leben – meine Zeit. In: https://www.ig-metall.de/mein-leben-meine-zeit-arbeit-neu-denken-22347.html

Mückenberger, U. (1985): Die Krise des Normalarbeitsverhältnisses – hat das Arbeitsrecht noch Zukunft? In: Zeitschrift für Sozialreform, 7-8. 415 – 434.

Negt, O. (1987): Lebendige Arbeit, enteignete Zeit. Frankfurt a. Main.

Schwitzer, H. et al. (2010) (Hrsg.): Zeit, dass wir was drehen! Perspektiven der Arbeitszeit- und Leistungspolitik. Hamburg.

Seifert, H. (2014): Renaissance der Arbeitszeitpolitik: selbstbestimmt, variabel und differenziert. Bonn.

Steinrücke, M. et al. (2001) (Hrsg.): Neue Zeiten – neue Gewerkschaften. Berlin.

Sterckel, G. (2004): Die neue arbeitszeitpolitische Initiative von ver.di. In: Linne, G. (Hrsg.): Flexible Arbeitszeit und soziale Sicherheit. Düsseldorf. 79–84.

Sterckel, G./Wiedemuth, J. (2007): Gewerkschaftliche Arbeitszeitpolitik – Eine perspektivische Bilanz der ver.di Arbeitszeitinitiative. In: WSI Mitteilungen, 4. 216–220.

Wiedemuth, J./Skrabs, S. (2015): Anstöße für die zukünftige Arbeitszeitpolitik von ver.di. In: Sozialismus, 7–8. 39–43.

ver.di – (2015): Mehr Zeit für mich – Impulse für eine neue Arbeitszeitpolitische Debatte. In: https://www.verdi.de/wegweiser/tarifpolitik/++fi le+55f94da4bdf98d55950000ac/download/ArbZeit_Brosch._ansicht-final_druck1.pdf.