Erinnern ohne Zeitzeug_innen?

Noch sprechen auf der Gedenkdemo zur Pogromnacht jährlich Menschen, die unter der NS-Diktatur gelitten haben. Ein antifaschistisches Bündnis, das die Kundgebung zur Pogromnacht am 9. November organisiert, muss sich mit der Frage beschäftigen, wie Erinnerungskultur ohne Zeitzeug_innen aussehen kann.

Erschienen in Neues Deutschland vom 09.11.2016


Unter dem Titel „78 Jahre nach der Pogromnacht – Kein Vergessen! Kein Vergeben! Gegen Antisemitismus und Rassismus“ ruft ein Bündnis aus Berliner Antifa-Gruppen, der Vereinigung der Verfolgten des Naziregimes und
Einzelpersonen zu einer Gedenkkundgebung mit anschließender Demonstration am 9. November 2016 am Mahnmal Levetzowstraße in Berlin-Moabit auf. Auch in Dresden, Leipzig und anderen Städten sind Gedenkveranstaltungen geplant.
Den historischen Hintergrund der jährlichen Demonstrationen bilden die antisemitischen Pogrome, die am 9. November 1938 ihren vorläufigen Höhepunkt fanden. Überall in Deutschland und Österreich brannten Synagogen, jüdische Geschäfte wurden überfallen und geplündert. Deutsche schlugen, vergewaltigten und ermordeten Jüdinnen und Juden. Etwa 30 000 Menschen wurden verhaftet und in Konzentrationslager und Gefängnisse verschleppt.
In den letzten Jahren waren es immer Zeitzeug_innen, die auf der Berliner Kundgebung von ihren persönlichen Erfahrungen aus den Novembertagen 1938 sprachen. Auch in diesem Jahr wird es mit Walter Kaufmann noch einen Überlebenden geben, der unter der Nazidiktatur litt. Doch sowohl für das
Bündnis, als auch für die gesamte Erinnerungskultur, wird es immer schwieriger, Zeitzeug_innen zu finden, die noch berichten können.
Ihre Bedeutung jedoch ist enorm: Denn erst die Stimmen der Opfer können zu einem umfassenden Verständnis der Pogrome und des gesamten Nationalsozialismus beitragen. In Zusammenhang mit Überlebenden der Shoah hat der israelische Philosoph Avishai Margalit den Begriff des moralischen Zeugen geprägt. Margalit geht davon aus, dass diese nicht durch ihren Tod in Erinnerung bleiben, sondern im Gegensatz das Überleben der Zeug_innen die notwendige Voraussetzung des Zeugnisses ist. Moralische Zeug_innen haben das Leid selbst erfahren und zielen mit dem Zeugnis auf die Überwindung diese Leids. Daraus folgt auch, dass die Nachgeborenen nicht eins zu eins an die Stelle der moralischen Zeugen treten können. Genau mit diesem Problem setzt sich das Bündnis offensiv auseinander. Für den 24. November planen die Antifaschist_innen in Neukölln eine Veranstaltung. Eine Referentin der Kreuzberger Initiative gegen Antisemitismus wird sich dabei mit der Rolle und Bedeutung von Zeitzeugen und Zeitzeuginnen in der historisch-politischen Bildung und emanzipatorischen Erinnerungsarbeit auseinandersetzen und die Frage behandeln, wie eine solche ohne
Zeitzeug_innen gestaltet werden kann.
Daneben gibt es im Rahmen des Gedenkens an die Pogromnacht ein breites Programm, das sich mit verschiedenen Ausprägungen von Antisemitismus und Rassismus beschäftigt. Dadurch will sich das Bündnis bewusst in aktuelle politische Debatten einmischen. So gibt es historische Veranstaltungen, wie die Darstellung des Alltag der Shoah am Beispiel des Sammellagers Levetzowstraße, aber auch solche zum Antisemitismus in der US amerikanischen Linken und dem Verhältnis von Antisemitismus und Feminismus.
Der Aufruf zur Demonstration beschreibt darüber hinaus Kontinuitäten von Antisemitismus und Rassismus anhand von NSU, AfD und Pegida und thematisiert auch deutsche Erinnerungspolitik, die nicht zum Zweck des Mahnens gedacht sei, sondern als Bewältigungsinstrument der eigenen nationalen Vergangenheit. So gerät das Gedenken an die Pogrome immer weiter hinter die Feierlichkeiten zum Fall der Berliner Mauer zurück. Dem 9. November droht dadurch eine Umdeutung. Schon vor 16 Jahren warnte Paul Spiegel, der damalige Präsident des Zentralrats der Juden in Deutschland, vor dieser Entwicklung: „Es darf aber niemals das Gedenken an den 9. November 1938 verdrängen und schon gar nicht zu einem ‚Feiertag, 9. November‘ führen. Denn Volksfeststimmung mit Würstchenbuden und Bierzelten, die der Freude über die Niederreißung der Mauer angemessen sind, taugen nicht zum Gedenken an die Millionen von Toten des Naziterrors.“ Dieses Diktum stimmt noch immer. Ohne Zeitzeug_innen wird es jedoch von Jahr zu Jahr schwieriger das umzusetzen – aber deswegen auch wichtiger.