Seit der Bologna-Reform kennen wohl alle Studierenden eine Zahl: die 180. Genau so viele Punkte müssen sie sammeln, um ihren Bachelor-Abschluss zu bekommen. Bildung messen diese sogenannten ECTS-Punkte jedoch nicht. Sie spiegeln Zeitstunden wider, um eine europaweite Vergleichbarkeit zu garantieren. Damit wird Studieren zum reinsten Pac-Man-Spiel.
Erschienen bei Was bildet ihr uns ein
Die Steigerung von Auslandsaufenthalten und der Mobilität der Studierenden war und ist eines der großen Ziele der Bologna-Reform. In einem „einheitlichen europäischen Hochschulraum“ sollte der Wechsel zwischen Fachbereichen, innerhalb eines Landes und vor allem zwischen den Ländern erleichtert werden. Im Sinne eines „europäischen Studiums“ sollten Leistungen, die an einer Universität erbracht wurden, mit anderen Universitäten vergleichbar gemacht werden. Diesen Ansprüchen ist die Bildungspolitik nicht gerecht geworden. Vielmehr noch: sie ist phänomenal gescheitert. Grund dafür: Die ECTS-Punkte.
Deren Grundprinzip ist leicht erklärt: Ein Bachelor-Studium ist auf drei Jahre und 180 ECTS-Punkte angelegt. 30 Punkte pro Semester. Ein Punkt entspricht 30 Arbeitsstunden, macht als 5400 Stunden für das gesamte Studium. Diese Punkte werden für verschiedene Module vergeben und können somit „angesammelt“ werden. Doch so einfach ist es nicht. War die Bologna-Reform mit dem Versprechen der Europäisierung angetreten, scheitert sie bereits am Offensichtlichen. Die 30 Arbeitsstunden pro Punkt gelten für Deutschland. In Großbritannien zum Beispiel werden offiziell nur 20 Stunden für einen Punkt angesetzt, in Schweden 26 bis 27 Stunden.
Damit ergeben sich schwerwiegende Probleme für Studierende, die im Ausland studieren. Die Vergabe der Punkte täuscht eine Objektivität und scheinbare Vergleichbarkeit vor, die es nicht gibt. Von diesem Schein lassen sich allerdings viele Studierende blenden und werden, sobald sie wieder an „ihrer“ Uni studieren schwer enttäuscht, wenn die im Ausland erbrachten Leistungen nicht anerkannt werden. Dies kann sehr schnell geschehen, wenn die beteiligten Universitäten und Hochschulen keine sogenannten Learning Agreements abgeschlossen haben, in denen die Anerkennung geregelt wird. So kann es sein, dass für gleiche Module in Paris und Berlin, oder sogar auch in Leipzig und Frankfurt unterschiedliche Punkte angeboten werden und ganze Studienpläne an einzelnen Punkten oder verweigerten Unterschriften einzelner Professor_innen, die Leistungen nicht anerkennen, scheitern.
Dabei ist es nicht unüblich, dass sich Student_innen nun gegen Auslandsaufenthalte oder auch Weiterqualifizierungen neben ihrem regulären Studium entscheiden müssen. Dabei ist doch gerade der „Blick über den Tellerrand“ Ausdruck des alten Ideal der universitas – also der Einheit von Forschung und Lehre. Dies wird immer mehr der Verwertbarkeit geopfert.
Auch Studienfach- oder Studienortwechsel innerhalb eines Landes werden somit schwieriger. Sind Studierende nach Studienortwechseln wieder in ihren Studienbüros, beginnen oftmals die Debatten, welche Leistungen wie anerkannt werden können, oder wie durch „flexible Lösungen“ doch noch Möglichkeiten gefunden werden können. Dies kostet Arbeit und Nerven von Studierenden als auch von den Angestellten der Verwaltungen der Universitäten und Hochschulen.
Die ECTS-Punkte entpuppen sich somit immer mehr als Hemmnis für Wechsel und führen zur Komplexitätssteigerung im Studium.
Oft fehlt die Zeit, die Jagd sein zu lassen
Doch nicht nur im europäischen Rahmen ergeben sich schwere und offensichtliche Probleme. Auch national führen die Punkte, neben Schwierigkeiten der Einheitlichkeit und Anerkennung, zu essentiellen Veränderungen im Hochschulbetrieb.
Ziel der Punkte ist es, Arbeit in Stunden zu messen. Der Erkenntnisgewinn spielt keine Rolle mehr. Und so bewegen sich Studierende durch die Universität auf der Jagd nach den Punkten. Hier fünf Punkte, dort ein Modul für sieben. Das ganze klingt mehr nach Pac-Man- oder Super-Mario-Spielen als nach Studium zum Zwecke der Selbstbewusstseinsbildung. Der Bielefelder Soziologie Stefan Kühl spricht in diesem Zusammenhang treffend vom „Sudoku-Effekt.“ Wie beim Sudoku geht es im Studium vor allem darum, die Punkte passgenau zu bekommen, um das Spiel zu lösen bzw. das Studium zu beenden. Die Inhalte treten zurück oder verschwinden ganz.
Die auf Leistung und den Arbeitsmarkt ausgerichtete Umstrukturierung der Universitätslandschaft wird hier klar ersichtlich. Es gilt so schnell, effektiv und zielstrebig wie möglich die allgemeine Währung ECTS-Punkte anzusammeln – ganz einfach dafür, um möglichst früh im „echten“ Arbeitsleben möglichst viel von der „echten“ Währung zu bekommen. Dies kommt auch bei den Studierenden an:
„Wenn eine bestimmte Anzahl an ECTS-Punkten fehlt und ein Kurs genau diese fehlende Anzahl füllt, dann würde ich diesen gegenüber einen anderen, evtl. spannenderen Kurs präferieren“, erzählt Carmen, Studentin der Sozialwissenschaften aus Berlin. Katha, ebenso aus Berlin ergänzt: „Also ich muss tatsächlich sagen, dass ich bis zum meinem Erasmusaufenthalt in Lissabon fast ausschließlich Kurse besucht habe, die mir Punkte gebracht haben, da ich neben der Universität anderweitig recht eingespannt war und mir schlicht die Zeit fehlte, im Vorlesungsverzeichnis nach links und rechts zu sehen.“ Studierende stehen also vor der Frage: Interesse oder Punkte. Allein, dass dieser Gegensatz aufgemacht wird, ist ein Effekt der ECTS- Punkte und zeigt die fundamentalen Schwächen. Es muss ein System entwickelt werden, dass es sinnvoll schafft, Interesse und Notwendigkeiten zu verbinden
Mit den ECTS-Punkten ist dies nicht möglich. Vielmehr kommen Studierende gar nicht auf die Idee, nach ihren Neigungen zu wählen, da sie nie etwas anderes kennen gelernt haben. Rudi Dutschke hätte in diesem Zusammenhang, wenn er ECTS-Punkte gekannt hätte, wohl von der „Bewusstlosigkeit der Studierenden“ gesprochen.
Auf der europäischen Ebene behindern und erschwerden die ECTS-Punkte ein Studium – sowohl die Mobilität, als auch den alltäglichen Kampf um Anerkennung von Leistungen. Solange sich aber Studierende in diesem komplexen System bewegen müssen, kann ihnen vielleicht der Rat eines weiteren Studenten, Pascal, eine Hilfe sein: „Ich entscheide mich jedes mal dafür, meinen Interessen nachzugehen – auch wenn es mehr Arbeit bedeutet – und leiste in diesen Seminaren im Endeffekt weitaus mehr als in den anderen“.
Es gibt also Möglichkeiten, um im universitären Pac-Man-Spiel Schlupflöcher zu finden, und ein Studium zumindest teilweise nach Interesse zu führen. Durch individuelles Handeln können individuelle Freiräume geschaffen, aber keine systemischen Veränderungen bewirkt werden. Hier bleiben die grundsätzlichen Regeln des Spiels unberührt. Diese zu ändern, ist aber zwingend notwendig.