Analphabetismus. Ein Thema, dass lange überwunden galt, rückt seit zwei Jahren mehr in die öffentliche Debatte. Die Veröffentlichung von drastischen Zahlen lies die Politik und die Gesellschaft zwar kurz aufhorchen, aktive politische Handlungen sind daraus allerdings nicht entstanden. Dafür wäre es aber höchste Zeit.
Erschienen bei Was bildet ihr uns ein
Chaos in der Werkstatt. Ein wütender Chef brüllt: Ob sein Mitarbeiter das Schild „Beladen verboten“ nicht lesen könne, schreit er. Daneben der verzweifelte Arbeiter, der die Schreie des Vorgesetzen erträgt. Dann kommt das Ende des Spots: „Über vier Millionen Menschen in Deutschland können nicht richtig lesen und schreiben.“
Dieser Satz der Sozialkampagne „Schreib dich nicht ab – Lern lesen und schreiben!“ dürfte vielen noch aus der TV-Werbung bekannt sein. Doch für die meisten war dies der einzige Berührungspunkt mit dem Thema Analphabetismus. Ein Phänomen, das auch in unserem elitären Bildungssystem, dessen Debatten sich um das Abitur, die Hochschule und fehlende Fachkräfte drehen, nur selten vorkommt. Wieso auch? Im hochentwickelten und hochindustrialisierten Deutschland gibt es ja wichtigere Themen als Randerscheinungen wie Analphabetismus. Ein Problem – ja, aber doch so klein und im Zweifel die eigene Schuld und Verantwortung der Analphabet_innen. So ist leider die gängige und weit verbreitete Sichtweise auf dieses Problem. Leider ebenso weit verbreitet wie falsch.
Seit dem Frühjahr 2011 liegen die Zahlen auf dem Tisch: Die leo-Studie, genaugenommen die Level-One-Studie der Hamburger Erziehungswissenschaftlerin Anke Grotlüschen, spricht eine deutliche Sprache. Ging man von bis zu vier Millionen Analphabet_innen aus, konfrontierte die Studie die staunenden Öffentlichkeit mit der Zahl 7,5 Millionen. So viele Menschen im Alter zwischen 18 und 64 Jahren sind sogenannte „funktionalen Analphabet_innen“. Das heißt, sie können einzelne Wörter und Sätze erkennen, aber keine größeren Texte und Zusammenhänge lesen. Über die Hälfte der Menschen sind deutsche Muttersprachler_innen – es ist also kein Problem von Migrant_innen – wie oft angenommen wird.
Viele haben darüber hinaus Schulabschlüsse: Jede_r zweite hat einen Hauptschulabschluss, gut ein Fünftel ist im Besitz der mittleren Reife. Analphabetismus ist also in der Mitte der Gesellschaft angekommen. Von großer Bedeutung oder Wichtigkeit ist das Problem aber immer noch nicht. Dass das Thema aber schnellstmöglich auf die politische Tagesordnung gehört, zeigen die Zahlen überdeutlich.
Leidtragende sind die Analphabet_innen
Betroffene leiden ihr ganzes Leben: Stigmatisierung, Ausgrenzung, Scham und Angst bestimmen ihren Lebensalltag. Dass es sich hier nicht um individuelle Probleme, sondern um eine gesellschaftliche Schande, um eine Schande des Bildungssystems handelt, zeigen weitere Zahlen. Das Angebot an Kursen für Analphabet_innen in Deutschland beträgt 20.000. Ein Platz also für 375 Bewerber_innen, wenn davon ausgegangen würde, dass sich alle überhaupt trauen, das Angebot in Anspruch zu nehmen. Eine groteske Situation!
Grotesker wird es noch, wenn man sich die Träger der Kurse ansieht: Vor allem Volkshochschulen bieten diese an. Sprich, die Länder bezahlen. Möchte man also – bei allem guten Willen – das Angebot hier ausbauen, würde man den Ländern und Kommunen in Zeiten der Schuldenbremse weitere Kosten zumuten. Gemeinden, die darüber nachdenken, Schwimmbäder und Kulturangebote zu streichen, werden wohl kaum Mehrkosten für Alphabetisierungskurse ausgeben. Das Thema erscheint den Verantwortlichen einfach nicht „wichtig“ oder prestigeträchtig genug.
Darüber hinaus gibt es natürlich noch gute und ganzheitliche Initiativen wie den AOB (Arbeitskreis Orientierungs- und Bildungshilfe) in Berlin-Kreuzberg. Er ist der erste Verein in Deutschland, der sich seit 1977 mit Alphabetisierung beschäftigt, und neben Alphabetisierungskursen noch Psychotherapie und soziale Beratung anbietet
Allerdings macht die fehlende finanzielle als auch infrastrukturelle Ausstattung solcher Initiativen ebenso wie der Betreuungsschlüssel an den Volkshochschulen einen vermehrten Handlungsbedarf deutlich. Dies muss sowohl finanzieller Natur sein, als auch Aufklärungsarbeit umfassen.
Niemand beschäftigt sich gerne mit Versagen, das ist klar. Nicht die Betroffenen selbst, weil sie sich schämen, nicht die Verantwortlichen, weil sie einsehen müssten, dass das Bildungssystem mehr als nur kleine Probleme aufweist. Abgesehen von der „Nationalen Strategie“ von Bund und Ländern, bei der als Reaktion auf die leo-Studie versucht wird, „arbeitsplatzorientierte Forschung und Entwicklung auf dem Gebiet der Alphabetisierung und Grundbildung“ zu fördern, ist in der Bundesrepublik nicht viel passiert. Diese Strategie war ebenso erfolglos wie das Ziel der Vereinten Nationen von 2003 bis 2012 die Anzahl der Menschen mit fehlender Alphabetisierung und Grundbildung zu halbieren.
Ein solches Recht auf (Grund)Bildung, ja ein Recht auf ein menschenwürdiges Leben, ist eine Aufgabe, der sich die gesamte Gesellschaft stellen muss. Die Ausgrenzung durch den Analphabetismus steht diesem Recht offensichtlich entgegen. Nachhaltige öffentliche Finanzierung von Initiativen, die bisher lediglich durch Spenden leben, sind daher ebenso entscheidend voranzutreiben wie ein Ausbau von Beratungsangeboten, der Sensibilisierung aller beteiligten Akteure (Eltern, Lehrer_innen sowie die Wirtschaft). Des Weiteren muss die „Nationale Strategie“ für eine gebührenfreie und flächendeckend zugängliche Grundbildung mit Leben gefüllt werden.
Die Weckrufe zu dem Thema sollten bei den Verantwortlichen angekommen sein. Bei ersten Fachgesprächen wurden im Bundestag Anträge der Oppositionsparteien debattiert. Hieraus muss allerdings konkretes politisches Handeln werden – zusammen mit Akteuren der Zivilgesellschaft. Es ist keine Zeit mehr. Aus diskutieren muss endlich handeln werden.