Höchste Zeit für Provokation

Eine Ausstellung würdigt das Leben und Wirken des Anarchisten Gustav Landauer in Berlin. Erschienen in: Neues Deutschland vom 29.04.2019

Am 2. Mai wird es genau 100 Jahre her sein, dass der Anarchist Gustav Landauer bei seiner Einlieferung in das Gefängnis München-Stadelheim durch Soldateska brutal ermordet wurde. Der anarchistische Aktivist, Publizist, Literat und Kulturpolitiker war nach Bayern gegangen, um als enger Vertrauter des damaligen Ministerpräsidenten Kurt Eisner und Delegierter des »Revolutionären Arbeiterrates« am Aufbau des Sozialismus in Bayern mitzuwirken. Als Anfang April 1919 die Räterepublik proklamiert wurde, erhielt Landauer das Amt des »Volksbeauftragten für Volksaufklärung, Unterricht und Künste« (vergleichbar einem Kultusminister). Seine erste Amtshandlung bestand in der Abschaffung der Prügelstrafe in Schulen. Drei Tage nach der Übernahme der Räteregierung durch Funktionäre der KPD um Eugen Leviné und Max Levien erklärte Landauer jedoch, enttäuscht von deren Politik, seinen Rücktritt von allen politischen Funktionen und Ämtern. Die Gegenrevolution, gesteuert von der SPD, kostete ihn das Leben.

Landauers Leben wird häufig auf diese wenigen Wochen 1919 reduziert. Umso erfreulicher, dass nun in Berlin eine Ausstellung zu sehen ist, die dieses schiefe und verkürzte Bild von Landauer »gerade rücken« will, wie Jan Rolletschek dem »nd« sagt. Bevor Landauer nach Bayern kam, war er »beinahe drei Jahrzehnte in Berlin und hat hier in den vielfältigsten Zusammenhängen gewirkt«, erläutert der Kurator, der über Landauers Rezeption des Philosophen Baruch de Spinoza promovierte und in der Gustav-Landauer-Initiative aktiv tätig ist.

Die Ausstellung schlägt den Bogen von Landauers Kindheit in Karlsruhe bis zu seiner Ermordung. Der Fokus aber liegt erstmals auf seinem Wirken in Berlin, wo der Student Landauer Sozialist wird und im Anarchismus seine politische Heimat findet. Mit nur 21 Jahren erhält er die Stelle des leitenden Redakteurs des Wochenblatts »Der Sozialist«, das zum Leitmedium der libertären Publizistik im Kaiserreich wird und bis 1915 erscheint. Ab 1908 baut Landauer den »Sozialistischen Bund« mit auf. Er nimmt als Redner an Versammlungen teil und tritt entschieden gegen Antisemitismus, Justizverbrechen und Militarismus ein – unter anderem auch im Ballhaus in der Berliner Naunynstraße, wie man in der Ausstellung erfährt.

In Berlin-Kreuzberg betreibt Landauer die »Freie Volksbühne«, ein Theater für die Arbeiterklasse. Er trägt zudem entscheidend dazu bei, die heute noch existierende Volksbühne ins Leben zu rufen, engagiert sich im Jüdischen Volksheim, für freie Schulen sowie die Konsumgenossenschaft »Befreiung«, die in der Kottbusser Straße ihren Sitz hat. Landauer pflegt Kontakte zu anarchistischen Intellektuellen in ganz Europa, zu Gewerkschafter*innen und Politiker*innen wie Erich Mühsam oder Ernst Toller.

Es sind diese regionalen Bezüge und der damit erweiterte Blick auf Landauer, welche die relativ textlastige Ausstellung besuchenswert macht. Unterstützung erhielten die Ausstellungsgestalter von namhaften Wissenschaftler*innen wie Siegbert Wolf, Micha Brumlik oder Eva von Redecker. Zur Vorbereitung der Exposition wälzten und studierten sie zahlreiche Akten, die teils seit 1918 von niemandem mehr gesichtet worden waren.

In der Bundesrepublik war Landauer wegen seiner sozialistischen Haltung verfemt, in der DDR passte sein liberaler Sozialismus nicht in die marxistisch-leninistische Staatsdoktrin. Erst in den letzten Jahren ist das Interesse an Landauer wieder erwacht. 2014 veröffentlichte Tilman Leder eine umfangreiche politische Biografie. Und die Gustav-Landauer-Initiative strebt ein Denkmal für den Querdenker in Berlin an. »Ein Denkmal für einen Anarchisten wäre natürlich eine Provokation«, räumt Rolletschek ein und ergänzt, dass es hierfür höchste Zeit sei. Die libertäre Bewegung gehört untrennbar zur Geschichte der deutschen Hauptstadt. Und dies sollte im öffentlichen Raum auch deutlich sichtbar sein. Die Ausstellung ist ein erster Schritt.

Ausstellung bis 9. Mai, Rathaus Berlin-Kreuzberg, ab 16. Mai im Haus der Demokratie und Menschenrechte Berlin. Am 2. Mai findet im Haus der Demokratie eine Gedenkveranstaltung für Landauer statt.

Verbündet euch!

Wie muss ein Feminismus aussehen, der mehr als den Kampf um Identitäten im Blick hat? Seit Simone de Beauvoir hat sich viel getan in der Theoriebildung um den Feminismus. Statt Klassenpolitik und Kapitalismuskritik spielt derzeit mehr denn je die Identitätsfrage eine
Rolle. Profeministisch – das scheint aktuell eher etwas, das man ist und weniger etwas, wonach man handelt. Die Herausgeberinnen des Bandes „Materializing Feminism“ wollen dem etwas entgegensetzen. Im Gespräch er­örtern sie die Wirksamkeit von Frauenstreiks, betonen die Notwendigkeit von Beziehungen und rechnen ab mit der Idee, dass Frauen im Kapitalismus lediglich mit männlichen Privilegien ausgestattet werden müssen – anstatt diese gänzlich abzuschaffen.
Erschienen in: Der Freitag 11/2019

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