Revolution von Assads Gnaden?

Das Verhältnis zwischen syrischem Regime und der «Selbstverwaltung von Nordostsyrien» schwankt zwischen offener Abgrenzung und Kooperation. Erschienen in: Rosa-Luxemburg-Stiftung vom 13.112.2022

Vor einem Jahrzehnt, in der Nacht vom 18. auf den 19. Juli 2012, übernahmen bewaffnete kurdische Einheiten die Kontrolle über die nordsyrische Stadt Kobane. Aufständische aus der Stadt begannen, alle staatlichen Einrichtungen in der Stadt zu belagern und zu erobern. Schließlich versammelte sich eine Menschenmenge vor dem Stützpunkt der syrischen Armee. Eine Delegation verhandelte mit den Militärs. Die kurdische Seite bot gegen Abgabe der Waffen sicheres Geleit an. Angesichts der Ausweglosigkeit willigten die Soldaten ein und zogen ab. So will es die kurdische Geschichtsschreibung.

Damals war noch nicht abzusehen, was dieser Aufstand bedeuten würde. Im Rückblick gilt der Tag als Beginn der kurdisch-dominierten «Rojava-Revolution». Aus ihr ist die «Autonome Selbstverwaltung von Nord- und Ostsyrien» (Autonomous Administration of North and East Syria  – AANES) entstanden, die bis heute besteht. Dabei hat sich das Gesicht dieser Verwaltung im letzten Jahrzehnt erheblich verändert. Gestartet als klar definiertes Projekt für kurdische Autonomie, ist sie nun ein föderales System mit arabischer Bevölkerungsmehrheit, das über ein Drittel Syriens kontrolliert.Christopher Wimmer ist Soziologe und freischaffender Autor aus Berlin. Regelmäßig schreibt er für verschiedene Wochen- und Tageszeitungen wie «taz», «nd» oder «Freitag». Im Sommer 2022 verbrachte er für Recherechearbeiten mehrere Monate in Nordostsyrien.

Das Projekt mit basisdemokratischem Anspruch gründet auf den Ideen von Rätedemokratie, Frauenbefreiung und Ökologie und muss sich fast seit Beginn gegen zahlreiche äußere Feinde wie den sogenannten «Islamischen Staat» und die Türkei verteidigen. Auch der syrische Machthaber Baschar al-Assad will sich Nord- und Ostsyrien einverleiben. Wurden dessen Truppen 2012 wirklich von der kurdischen Bevölkerung unter Führung der «Partei der Demokratischen Union» (PYD) zurückgedrängt oder zogen sie sich freiwillig zurück? Gab es gar eine Vereinbarung zwischen der PYD und dem Regime in Damaskus, wie es kritische Stimmen immer wieder behaupten?

Taktik und unvorhersehbare Folgen

Die syrischen Kurd*innen beteiligten sich bereits an den ersten regimefeindlichen Protesten im März 2011. In den kurdisch-dominierten Regionen um Amude, Qamischlo, Heseke oder Kobane nahmen bei Demonstrationen jeweils etwa 10 bis 15.000 Menschen teil. Am 8. Oktober 2011 sollen allein in Qamischlo – der größten Stadt mit kurdischer Bevölkerungsmehrheit – 100.000 Menschen demonstriert haben. Das Regime in Damaskus reagierte schnell: So wurde der Zugang zur syrischen Staatsbürgerschaft für Kurd*innen erleichtert, die ersten kurdischen Neujahrsfeiern in Damaskus genehmigt und kurdische Schulen eröffnet. Außerdem wurden kurdische politische Gefangene freigelassen und der 2003 klandestin gegründeten PYD – die syrische Schwesterpartei der in der Türkei gegründeten «Kurdischen Arbeiterpartei» PKK – wurdestillschweigend erlaubt, aktiv zu werden.

Trotzdem gingen die Proteste weiter. Die PYD bezeichnete sich damals als «dritte Alternative»: sowohl zum Assad-Regime als zur arabisch dominierten «syrischen Opposition». Das Ziel der Partei war nicht der Sturz der Regierung in Damaskus, sondern gesellschaftliche beziehungsweise kurdische Selbstbestimmung. Auf Grundlage ihres konföderalistischen Paradigmas, das die Partei mit der PKK teilt, ist ihr Ziel nicht ein eigener (kurdischer) Nationalstaat, sondern Autonomie innerhalb eines demokratischen Syriens. Dies mag auch das weitgehende Ausbleiben von Gewalt in der Zeit der Übernahme in den kurdischen Gebieten 2011 und 2012 erklären. So gab es zwar keine gemeinsame Politik von PYD und dem Assad-Regime, aber die Partei und ihr bewaffneter Flügel – die Volks- und Frauenverteidigungseinheiten YPG/YPJ – profitierten durchaus von einem gewissen Pragmatismus des Regimes. Für Damaskus war die restliche syrische Oppositionsbewegung zu diesem Zeitpunkt schlicht gefährlicher, sodass die PYD ihre basisdemokratischen Strukturen weiter ausbauen konnte. Die Partei nutzte daher die staatliche Zurückhaltung aus. Der Parteivorsitzende Salih Muslim betont allerdings immer wieder, dass es keine Kollaborationen gegeben hat.

Auch der Rückzug der syrischen Armee aus den kurdischen Gebieten 2012 muss als (riskantes und verunglücktes) taktisches Manöver angesehen werden. Zwar nahmen damals die Proteste der kurdischen Bevölkerung zu, jedoch war der Rückzug keineswegs vollständig erzwungen. Damaskus räumte dem offenen Krieg gegen die Opposition Vorrang gegenüber der kurdischen Selbstverwaltung ein, von der sie wusste, nicht sezessionistisch zu sein. Die von den Kurd*innen gehaltenen Gebiete könnten zu einem späteren Zeitpunkt zurückerobert werden. Deren militärische und gesellschaftliche Stärke, ihre zentrale Rolle, die sie später bei der Niederschlagung des «Islamischen Staats» spielen sollten sowie die internationale Unterstützung, die ihnen zuteil wurde, waren zu diesem Zeitpunkt noch nicht abzusehen. Auch der staatliche Kontrollverlust über fast alle syrischen Gasfelder und die Hälfte der Ölfelder, die nun von der Selbstverwaltung kontrolliert werden, zeigt, dass es keinen langfristigen Plan des Regimes sowie keine gemeinsame Strategie gegeben hat. Darauf deutet ebenso hin, dass es in den folgenden Jahren regelmäßig zu blutigen Auseinandersetzungen zwischen Regime-Truppen und der YPG/YPJ kam – insbesondere um die Großstädte Heseke und Qamischlo, in denen das Regime bis heute noch einzelne Gebiete hält.

Geteilte Städte

Heseke ist als regionale Hauptstadt mit einem Bevölkerungsanteil von rund 50 Prozent Araber*innen seit 2012 umkämpft. Im August 2016 kam es zu einer offenen, stadtweiten Schlacht zwischen YPG/YPJ und der syrischen Armee um die Vorherrschaft, bei der Damaskus erstmals Luftangriffe gegen kurdische Kräfte flog. Dabei wurden über zwei Dutzend Zivilist*innen getötet. Nach zweiwöchigen Kämpfen wurde unter russischer Vermittlung der größte Teil der Stadt der Selbstverwaltung übergeben. Die Streitkräfte des Regimes wurden gezwungen, die Stadt zu verlassen. Dennoch haben sie bis heute innerstädtische Kontrollpunkte und verfügen auch über einen Militärstützpunkt auf dem Berg Kawkab im Osten der Stadt.

Auch in Qamischlo hält das Regime strategisch wichtige Teile der Stadt besetzt, darunter den Flughafen, das nationale Krankenhaus, einen Militärstützpunkt, den Grenzübergang zur Türkei sowie ein fast 100 km² großes Gebiet südlich der Stadt. In Qamischlo kam es seit 2012 nahezu jährlich zu militärischen Auseinandersetzungen um Stadtteile und Straßenzüge, bei denen Dutzende Menschen um Leben kamen. Zuletzt wurden im April 2021 bei schweren Kämpfen Regime-Soldaten aus dem arabisch-dominierten Stadtteil al-Tayy vertrieben, der seitdem von der Selbstverwaltung kontrolliert wird – ebenso wie große Teile des alten Regierungsviertel im Stadtzentrum.

Zwischen Krieg und Kooperation

Neben diesen offenen Auseinandersetzungen fanden im April 2015 erste offizielle Gespräche zwischen Damaskus und der Selbstverwaltung statt. Salih Muslim erklärte im Namen der PYD seine Bereitschaft, mit dem Regime auf der Grundlage einer «demokratischen Zukunft Syrien» zu verhandeln. Auch während des Kriegs gegen den «Islamischen Staat» kam es 2017 und 2018 zu militärischen Absprachen. Die bislang drei türkischen Invasionen in Nordsyrien zwangen beide Parteien zu einer engeren Koordination. Im Februar 2019 wurden zudem erste Hinweise auf Ölverkäufe der Selbstverwaltung an das Regime veröffentlicht. Im Mai desselben Jahres schlugen YPG und syrische Armee gemeinsam einen von der Türkei unterstützten Angriff auf Tel Rifaat zurück. Bei den türkischen Angriffen auf Tel Abyad und Sere Kaniye leistete die syrische Armee jedoch keinen Widerstand.

Vor dem Hintergrund der aktuellen türkischen Angriffe geht die Kooperation weiter. Auch die syrische Armee bereitete sich auf einen militärischen Einsatz in den nordsyrischen Gebieten vor, um der türkischen Invasion entgegenzutreten. Soldaten und Material werden in die Grenzregionen geschickt. Kino Gabriel, der ehemalige Sprecher der «Demokratischen Kräfte Syriens», in denen auch die YPG/YPJ organisiert sind, hatte kürzlich erklärt, mit allen zusammenzuarbeiten, die Nord- und Ostsyrien gegen die Türkei verteidigen werden.

Für die Selbstverwaltung liegt die Lösung der syrischen Frage in einer Demokratisierung des Landes.

Diese Zusammenarbeit ist also aus der Not der äußeren Bedrohung geboren. Darüber hinaus gibt es zwischen AANES und Regime erhebliche politische und ideologische Differenzen. Diese betreffen einerseits ganz alltägliche Bereiche. So ist das Bildungswesen in beiden Gebieten nicht einheitlich und die Abschlüsse der Schulen und Universitäten der Selbstverwaltung werden nicht anerkannt. Ebenso unterliegt die Selbstverwaltung einem Embargo. Waren oder auch Medikamente sind dort teuer, da sie in die Region geschmuggelt werden müssen. Ebenso werden internationale Hilfsgüter (zum Beipiel COVID-Impfstoffe) über Damaskus verteilt und erreichen Nordostsyrien kaum. Grundsätzlich gibt es keine gemeinsame, einheitliche Vision für Gesamtsyrien. Die Rhetorik Baschar al-Assads ist eindeutig. Er ist gegen das Autonomieprojekt im Nordosten und hat wiederholt angekündigt, «jeden Zentimeter Syriens» zurückerobern zu wollen. Für die Selbstverwaltung liegt die Lösung der syrischen Frage in einer Demokratisierung des Landes. Im aktuellen Entwurf des «Gesellschaftsvertrags» Nordostsyriens wird daher auch ausdrücklich darauf hingewiesen, dass die Region Teil einer «Demokratischen Republik Syrien» sein solle. Gleichzeitig sind die Verantwortlichen der Selbstverwaltung realistisch genug, die Position Assads richtig einzuschätzen. Die ehemalige Vorsitzende der PYD Aisha Hasso erklärte dahingehend: «In Damaskus regiert immer noch der Geist von 2011.» Nichtsdestotrotz war die Selbstverwaltung immer wieder zumindest zu kurzfristigen, pragmatischen Allianzen bereit.

Hintergrund des ambivalenten und wandelnden Verhältnisses der Selbstverwaltung von Nord- und Ostsyrien zum syrischen Regime ist gleichermaßen die Tatsache, dass es sich bei der Selbstverwaltung nicht um einen monolithischen Block handelt. Vielmehr finden sich dort sowohl solche, die sich eine engere Beziehung zu Damaskus wünschen, als auch diejenigen, die das syrische Regime als die Wurzel allen Übels ansehen. Einigkeit besteht jedoch darin, dass die syrische Frage in Damaskus entschieden werden muss. Für die einen bedeutet dies eine Stärkung Assads, für die anderen eine Demokratisierung Syriens. Die syrische Krise ist somit weit entfernt von einer Lösung.