Türkei droht mit der Ausweitung des Krieges

Die USA und Russland halten Ankara von einer Invasion ab, doch die Drohnenangriffe häufen sich. Erschienen in “Frankfurter Rundschau” vom 19.09.2022

Zuletzt traf es an zwei Tagen in Folge die nordsyrische Stadt Tall Rifaat in der Nähe von Aleppo. Bei Drohnenangriffen auf dem zentralen Marktplatz wurden drei Menschen getötet und acht weitere verletzt, darunter zwei Kinder. Bereits am 18. August kamen bei einem Angriff auf ein Kinder- und Jugendheim in der Nähe der Stadt al-Hasaka vier Mädchen ums Leben, die vor dem Heim Volleyball spielten.

Dies sind nur die jüngsten Beispiele einer langen Reihe von Angriffen auf Nord- und Ostsyrien. Bei insgesamt 75 Drohnenangriffen (Stand: 25. August) starben dieses Jahr bereits 54 Menschen und 101 wurden verletzt. Darunter waren sieben getötete und 19 verletzte Kinder. Allein im August kamen bisher bei 14 Angriffen 26 Menschen ums Leben. Diese Daten stammen von der unabhängigen Medienorganisation „Rojava Information Center“ (RIC) mit Sitz in der nordsyrischen Stadt Qamishlo. Die Zahlen dürften weit höher liegen, da das RIC nur offiziell gemeldete Vorfälle in seine Statistik aufnimmt.

Ankara spricht von Gefahr

Die Angriffe kommen höchstwahrscheinlich von der Türkei. Seit Monaten droht der türkische Präsident Recep Tayyip Erdogan mit einer Militärintervention in der Region. Für Erdogan stellt die autonome Selbstverwaltung in Nord- und Ostsyrien – unter dem Namen Rojava bekannt – eine „terroristische Bedrohung“ dar, wie er zuletzt wiederholt betonte. Die Türkei sieht in der Selbstverwaltung lediglich einen Ableger der als terroristisch eingestuften und verbotenen Kurdischen Arbeiterpartei PKK.

Die Türkei hat bereits seit 2016 in drei Angriffskriegen große Teile Rojavas annektiert und möchte nun eine 30 Kilometer tiefe Sicherheitszone innerhalb Syriens errichten, die das Ende des demokratischen Projekts in Rojava und wohl die Vertreibung der zahlreichen dort lebenden Kurd:innen bedeuten würde.

Man wolle, so Erdogan, zunächst die Städte Tall Rifaat und Manbidsch „von Terroristen säubern“. Zuletzt hatte die Türkei bei zwei Gipfeln in Teheran und Sotschi um grünes Licht für eine Invasion gebeten. Russland unterstützt in Syrien den Machthaber Baschar al-Assad und kontrolliert weitgehend den Luftraum über Nord- und Ostsyrien. Bislang stellen sich sowohl Russland als auch die USA gegen eine militärische Invasion.

Daher scheint die Türkei ihre Taktik zu ändern und die Drohnenangriffe zu intensiveren, um weiter gegen die Selbstverwaltung vorzugehen, ohne jedoch direkt einzumarschieren. Dies wird durch eine Aussage des türkischen Verteidigungsministers Hulusi Akar bekräftigt, der jüngst erklärte, Ziel der Türkei sei ausschließlich die Bekämpfung „terroristischer Organisationen“. Selbstverständlich respektiere man die staatliche Integrität Syriens.

Die Türkei hat allerdings in diesem Jahr auch ihre Angriffe auf den Nordirak verschärft, wo sie ebenfalls Stellungen der PKK vermutet. In den vergangenen Wochen wurden zahlreiche Dörfer bei mehreren Hundert Einsätzen mit Kampfflugzeugen und -hubschraubern zerstört. Dabei kam es laut lokalen Quellen auch zum Einsatz von chemischen Waffen. Bei einem Angriff Ende Juli auf den Ferienort Duhok wurden zahlreiche Zivilpersonen getötet und verletzt: allesamt Urlauber:innen aus dem Südirak. Diese Art der Kriegsführung ist vor allem für die Zivilbevölkerung besonders belastend. Die Drohen machen keinen Unterschied zwischen Zivilist:innen und militärischen Personal – alle sind in Gefahr.

Während Militärs oder Politiker:innen „gezielt“ ermordet werden, kommt es auch immer wieder zu zivilen Opfern. Für die gesamte Bevölkerung bedeutet dies eine enorm hohe psychische Belastung. Es gibt kaum Möglichkeit, sich zu schützen oder in Sicherheit zu bringen.

Drohnenangriffe geschehen unangekündigt und willkürlich. Aufgrund dieser Intensivierung der Angriffe hat die Selbstverwaltung von Nord- und Ostsyrien bereits am 6. Juli den Ausnahmezustand ausgerufen, der bis heute in Kraft ist. Dies ist das erste Mal, dass dieser für das gesamte Gebiet gilt. Der Beschluss wurde auf einer Dringlichkeitssitzung des Generalrats gefasst. Darin heißt es: „Alle Kommunen, Räte und Institutionen der Selbstverwaltung werden aufgefordert, Notfallpläne zu beschließen, um den aktuellen Herausforderungen und Bedrohungen zu begegnen.“ Haushaltsmittel werden umgewidmet und fließen in das Militär.

Gesellschaftliche Veranstaltungen wie Sportereignisse wurden ausgesetzt oder finden nur noch unter erhöhten Sicherheitsvorkehrungen statt.

In der Großstadt Qamishlo im Nordosten Syrien geht der Alltag indes unvermittelt weiter. Zwar sind an den zahlreichen Checkpoints in und um die Stadt vermummte Sicherheitskräfte mit Kalaschnikows positioniert; das gehört jedoch zum Alltag.

Anders sieht die Situation in den direkter vom Krieg betroffenen Städte Kobane und Manbidsch im Westen aus. In der Grenzstadt Kobane herrscht ab 20 Uhr eine Sperrstunde. Über den Köpfen der Menschen fliegen dort täglich Aufklärungsdrohnen. Die Straßen im Stadtzentrum befindet sich mittlerweile fast vollständig unter Wellblechdächern, um sich gegen sie zu schützen.

Die Städte bereiten sich vor

Der Ausnahmezustand führt ebenso zu einer Intensivierung des Baus von Schutzanlagen, Tunneln und Bunkern in Dörfern und Stadtvierteln. Die Kommunen in ganz Nord- und Ostsyrien organisieren aktuell Schulungskurse und bereiten die Selbstverteidigung vor. Die Trainings umfassen Waffenunterricht sowohl für Männer als auch Frauen und Jugendliche und werden von extra eingerichteten „Notfallkomitees“ koordiniert. Hinzu kommen Erste-Hilfe-Kurse für die Bevölkerung. Laut der Gesundheitsbehörde werden diese in „allen Krankenhäusern, Kliniken und medizinischen Einrichtungen“ der Region angeboten.

In Manbidsch habe die Stadtverwaltung „auf allen Ebenen“ den Ausnahmezustand umgesetzt, berichtet Muhammad Khair Sheikho, der Co-Vorsitzende des Exekutivrats der Stadt im Gespräch. „Wir haben eine Lebensmittelversorgung eingerichtet sowie Einsatzteams zur Brandbekämpfung speziell für Krankenhäuser und Kliniken.“ Ebenso sei eine Notversorgung mit Wasser und Strom sichergestellt, so Sheikho weiter. „Wir sind für den Notfall bestens vorbereitet. Wir hoffen aber, dass es keine Invasion gibt.“ Eine solche Invasion würde nur eine Verschärfung der Situation darstellen, die Drohnenangriffe auf Nord- und Ostsyrien bedeuten für die Menschen bereits jetzt Krieg – ein Krieg des Nato-Mitglieds Türkei, zu dem der Westen bisher schweigt.