Transformation unter erschwerten Bedingungen

Zur politischen Ökonomie Nordostsyriens. Erschienen bei der Rosa-Luxemburg-Stiftung am 06.09.2022

Rojava – oder, wie die Region offiziell heißt «Autonome Verwaltung von Nord- und Ostsyrien» (AANES) – ist für viele Linke zu einem positiven Bezugspunkt für gesellschaftliche Veränderung geworden. Bei der AANES handelt sich um eine multiethnische Gesellschaft, deren Selbstverwaltung nach der «Rojava-Revolution» im Juli 2012 gegründet wurde. Ihr Ziel ist kein Staat, sondern Autonomie in einem föderalen, demokratischen Syrien. Als politische Gemeinschaft ist sie säkular und demokratisch und fördert die Rechte von Frauen, Ökologie und Toleranz in religiösen und kulturellen Fragen. Anspruch ist, politische Macht weitgehend zu dezentralisieren und Entscheidungen in Kommunen und Räten zu treffen. Ein wesentlicher Baustein der gesellschaftlichen Transformationsprozesse bildet die politische Ökonomie, die sich als kommunales System versteht.

An Herausforderungen mangelt es dabei nicht: Inflation und steigende Lebensmittel- und Ölpreise treiben fast die gesamte Bevölkerung in die Armut. Die Luftverschmutzung, die durch die unzureichende Ölförderung verursacht wird, führen zu gesundheitlichen Problemen für die Bewohner*innen in der Nähe der Ölfelder. Eine völlig zerstörte Infrastruktur sowie der Mangel an qualifizierten Arbeitskräften ergänzen diese (unvollständige) Liste.
Die Grundversorgung der Bevölkerungsmehrheit ist nicht sichergestellt. Strom gibt es nur an wenigen Stunden pro Tag, Benzin ist Mangelware, und Dürren führen zu mangelnder Ernte und Nahrungsmittelknappheit.

Nordostsyrien als Zulieferer

Vor dem syrischen Bürgerkrieg spielte Nordostsyrien trotz peripher Lage eine zentrale Rolle in der syrischen Wirtschaft: als Zulieferer für Öl und Nahrungsmittel. Zum einen sind die Ölvorkommen in der Region Jazeera so groß, dass etwa 50 Prozent der syrischen Ölproduktion von dort stammen. Zum anderen spielt die Landwirtschaft eine wichtige Rolle, die unter dem Baath-Regime systematisch auf den monokulturellen Anbau von Weizen umgestellt wurde. Dadurch lieferte Jazeera bis zu 50 Prozent des syrischen Weizens und wurde so zur «Kornkammer Syriens». Weiter westlich, in Afrin, wurden hauptsächlich Obst und Oliven angebaut. Von dort kamen 30 Prozent der gesamten Oliven des Landes.

Der Reichtum an Rohstoffen führte jedoch nicht zum Wohlstand der Region. «Das Baath-Regime hat hier vor Ort keine wirtschaftliche Entwicklung betrieben, sondern sich einfach nur alle Ressourcen genommen.» Zu dieser Einschätzung kommt Karker Ismail. Er arbeitet gegenwärtig im «Genossenschaftskomitee» der Selbstverwaltung in der Region Jazeera und ist Experte für die Ökonomie Nordostsyriens.

Alle Produkte wurden außerhalb der Region weiterverarbeitet. Das Öl wurde über Pipelines nach Homs transportiert, wo sich die größten Raffinerien in Syrien befinden. Ebenso gab es in Nordostsyrien keine Getreidemühlen. «Nordostsyrien wurde systematisch vernachlässigt und trotz seines Reichtums arm gehalten», hebt Ismail hervor. Die einzige wirtschaftliche Rolle bestand darin, Syrien mit Rohstoffen zu versorgen. Dies hatte zur Folge, dass Nordostsyrien zu den am wenigsten entwickelten Gebieten in Syrien zählte – mit den höchsten Erwerbslosen- und Armutsquoten landesweit.

Die politische Ökonomie in Nordostsyrien

Inmitten des syrischen Bürgerkriegs und der syrischen Revolutionsbewegung seit 2011 kam es am 19. Juli 2012 zur «Rojava-Revolution». An diesem Tag übernahmen kurdische Einheiten die nordsyrische Stadt Kobane. Von dort breitete sich der Aufstand auf andere Städte aus. Dabei kam es zu keinen größeren militärischen Auseinandersetzungen, da sich die syrische Armee ohne nennenswerten Widerstand zurückzog. Bis heute ist umstritten, ob dies der politisch-militärischen Kraft der Aufständischen geschuldet war oder ob sich das Regime freiwillig zurückzog, um im Bürgerkrieg keine weitere Front zu eröffnen. In Nordostsyrien gründeten sich schnell Räte, die das öffentliche Leben selbstverwaltet weiterführten. Zu ihren Aufgaben gehörte die Verteilung von Lebensmitteln und Kraftstoff ebenso wie die Organisation von Bildung, Selbstverteidigung und der Aufbau einer unabhängigen Justiz. Innerhalb weniger Monate war ein funktionierendes Rätesystem entstanden. Anfang 2014 wurde die Selbstverwaltung in den drei autonomen Gebieten Afrin, Kobane und Jazeera unter dem Namen «Rojava» proklamiert.
Sie stand vor der Herausforderung, die Ökonomie vor dem Zusammenbruch zu bewahren. Es wurden Wirtschaftsräte und -kommissionen auf kommunaler und regionaler Ebene eingesetzt, die auf den Märkten und in den Lagern Preisgrenzen für den Grundbedarf festlegten und kontrollierten. Dadurch konnte eine Hungersnot verhindert werden. Wichtig war ebenso die ökonomische Diversifizierung. Die exportorientierte Produktion ging zurück, während die Erzeugung von Gemüse, Linsen, Gewürzen und Bulgur zunahm. Die Entwicklung regionaler Märkte hatte oberste Priorität, da Lieferungen aus anderen Teilen Syriens stagnierten und die Region mit einem Embargo belegt war. Karker Ismail beschreibt die politische Ökonomie Nordostsyriens folgendermaßen:
«Unsere Wirtschaft ist kommunal und dezentral, sie geht von den Menschen aus und ist damit das komplette Gegenteil zur Ökonomie des Regimes. Wir fördern kooperative und genossenschaftliche Arbeit, bei der lokale Produkte hergestellt werden. Zentral für unser System ist die Kommune, in der Menschen zusammenkommen und eine Wirtschaftskommission wählen, die für die Wirtschaft der Kommune verantwortlich ist. Diese Kommissionen wiederum wählen die Wirtschaftskommissionen für die nächst höhere Ebene.»

Die Wirtschaftskommissionen verwalten die alltägliche Praxis in ihren Kommunen. Grundsätzlich haben sie das Recht, Maßnahmen in allen lokalen (wirtschaftlichen, sozialen, etc.) Angelegenheiten zu treffen. Zu ihren Aufgaben gehören Dienstleistungen wie die Gründung und Verwaltung von Genossenschaften und die Landverteilung. Die Kommissionen ermitteln von unten die Bedarfe und stimmen sie mit den nächsthöheren Ebenen (Stadtteil, Distrikt und Region) ab. Von oben beaufsichtigt die AANES diese Entscheidungen durch den Exekutivrat. Dieser erlässt einheitliche Rahmenbedingungen wie Vereinheitlichung der Zölle oder Kraftstoffpreise oder Arbeitsgesetze.

Die Wirtschaftsordnung sieht explizit den Schutz von Privateigentum als auch von Unternehmertum vor. Gleichzeitig versteht sich die AANES als Alternative zu kapitalistischen und (staats-)sozialistischen Ökonomien. Das System basiert weder auf der Idee des Marktes noch des Staates, sondern auf sich selbst verwaltenden Einheiten.
Nach wie vor ist die Ökonomie in Nordostsyrien hauptsächlich von Land- und Viehwirtschaft, kleinen Werkstätten und Handel geprägt. Ziel der Agrarpolitik ist es, möglichst kurze Lieferketten zu ermöglichen und die Produktionsmittel eng an den lokalen Bedarf zu binden. Wirtschafts- und Landwirtschaftskommission versuchen, die Preise für Getreide zu regulieren, werden aber regelmäßig durch das Baath-Regime unterlaufen, das große Mengen auf den lokalen Märkten verkauft oder erwirbt. Darüber hinaus ist die Wasserknappheit ein zentrales Problem für die Landwirtschaft, weshalb es dort keine nennenswerten Investitionen gibt, was (teure) Importe nötig macht. Die Industrie ist relativ klein und kann kaum expandieren. Bei den Fabriken handelt es sich meist um kleine Werkstätten, die Textilien, Shampoo oder Konserven für den Hausgebrauch herstellen. Für die Stagnation des Sektors gibt es viele Gründe, darunter die Tatsache, dass das lokale Kapital lieber sicherer Investitionen (wie Immobilien) tätigt, weswegen die Branche stagniert. Ebenso macht das Embargo die Einfuhr von Rohstoffen praktisch unmöglich. Der Bausektor hat in den letzten Jahren einen Boom erlebt. Dies ist in erster Linie auf einen Anstieg der Nachfrage nach Wohnraum infolge der starken Migrationsbewegungen in der Region zurückzuführen. Darüber hinaus wurden die zuvor vom Baath-Regime verhängten Beschränkungen für die Erteilung von Baulizenzen von der AANES gelockert, die den Sektor als lukrative Einnahmequelle erkannt hat. Lange Zeit durften Kurd*innen nur einstöckige Häuser bauen. Jetzt sind bis zu vierstöckige Häuser erlaubt.

Realität der Genossenschaften

Ein wichtiger Teil der alternativen Ökonomie Nordostsyriens sind Genossenschaften. Deren Ziel ist es, Überschüsse in den lokalen Gemeinschaften zu halten. In Nordostsyrien steht die Versorgung der Kommune im Mittelpunkt, der Markt kommt erst an zweiter Stelle. Es ist gesetzlich verboten, Genossenschaften zu privatisieren; sie müssen unter kommunaler Kontrolle bleiben. Damit sind sie dem kapitalistischen Profitstreben entzogen.

Die Verwaltung der Genossenschaften wird von den Kommunen gewählt und von deren Wirtschaftsausschüssen kontrolliert. Darin unterscheiden sie sich von privaten Unternehmen. Das «Genossenschaftskomitee», dem Karker Ismail vorsteht, koordiniert die Genossenschaften und hat für sie allgemeine Regeln erlassen: 25 Prozent der Einnahmen müssen reinvestiert werden, 20 Prozent gehen als Steuern an die AANES und fünf Prozent an das Genossenschaftskomitee. Ebenso ist festgelegt, dass alle Genossenschaften ökologische Grundsätze einhalten. Tun sie dies nicht, kann sie das Komitee auflösen.

Die Mehrheit der Genossenschaften in NES sind landwirtschaftliche Betriebe, die ehemaliges Staatsland (rund 80 Prozent des Landes in Nordostsyrien) gepachtet haben und dort produzieren. Aber auch in anderen Wirtschaftsbereichen haben sich Genossenschaften entwickelt: vor allem in Bäckereien, aber auch in der Textilindustrie oder der Milchwirtschaft. Da Frauenbefreiung für die AANES eine entscheidende Rolle spielt, werden auch spezielle Frauengenossenschaften gefördert, um Beschäftigungsmöglichkeiten für Frauen zu schaffen und ihre wirtschaftliche Unabhängigkeit im Rahmen der Kollektivwirtschaft zu unterstützen.

Ziel der AANES ist es, Genossenschaften zur dominierenden Wirtschaftsform zu machen. Aufgrund des dezentralen politischen Systems ist es jedoch schwierig, Daten über die Verbreitung von Genossenschaften zu bekommen. Selbst Karker Ismail kann keine genauen Zahlen nennen. Er gibt nur an, dass sich «unsere Genossenschaften entwickeln. Im Moment befinden sie sich jedoch auf niedrigem Niveau.» Angesichts von schätzungsweise vier Millionen Menschen in Nordostsyrien sind die Genossenschaften im Vergleich zum Bedarf an Produktion und Konsumtion noch marginal. Die meisten Genossenschaften sind nur kleine Unternehmen mit einer Handvoll Mitarbeiter*innen und machen nur einen minimalen Teil der Ökonomie aus. Die strategisch wichtigen Produktionsbereiche (wie Strom, Gas und Öl) werden nicht genossenschaftlich verwaltet. Sie stehen entweder unter direkte Kontrolle der Kommissionen der AANES oder werden von privaten Unternehmen betrieben, die meist der in Nordostsyrien vorherrschenden kurdisch-dominierten PYD (Partiya Yekîtiya Demokrat – Partei der Demokratischen Union) nahestehen. Eine gemeinwohlorientierte und kommunale Ökonomie auf der Basis von Genossenschaften ist in Nordostsyrien somit keine Realität.

Vielfältige Abhängigkeiten

Ein Spannungsfeld zwischen basisdemokratischem Anspruch und teilweise monopolistischer Wirklichkeit besteht auch darin, dass die (quasi-staatliche) AANES als größter Akteur eine entscheidende Rolle in der politischen Ökonomie Nordostsyriens spielt: Offiziellen Angaben zufolge beschäftigt die AANES rund 250.000 Personen, davon 100.000 bei den Streitkräften. Hinzu kommen regulierende Eingriffe der Kommissionen in die wirtschaftliche Entwicklung wie Preisfestlegungen und Besteuerung. Gleichzeitig existiert der Privatsektor weiterhin in erheblichem Umfang. Eine grundlegende Veränderung der Besitz- und Eigentumsverhältnisse steht also noch aus. Die Selbstverwaltung steht stark unter dem Einfluss von Landbesitzern und Geschäftsleuten. Da sowohl in den Kommissionen als auch in der Privatwirtschaft gute Kontakte zur PYD die Regel sind, birgt dies die latente Gefahr für Nepotismus und Ineffizienz.

Dies wird dadurch verstärkt, dass es zu wenig Transparenz in Haushaltsfragen gibt. Da sich der Haushalt wesentlich von einem Haushalt westlicher Staaten unterscheidet, ist es aus europäischer Perspektive nicht einfach, ihn nachzuvollziehen. Neben dem allgemeinen gibt es einen separaten Militärhaushalt. Der Zivilhaushalt von 2022 beläuft sich auf 981 Millionen US-Dollar. Die Einnahmen gliedern sich in Ölverkäufe, Einkommenssteuern sowie Einfuhrzölle. Die Ölfelder in Heseke und Deir ez-Zor sind die wichtige Einnahmequelle. Die Ausgaben von 157 Millionen US-Dollar werden zu knapp 70 Prozent für die Gehälter der Angestellten der Selbstverwaltung verwendet. Der Rest fließt in die Infrastruktur. Die Militärausgaben werden größtenteils von den USA finanziert und gehen direkt, und damit ohne weitere demokratische Kontrolle, an die Selbstverteidigungskräfte.
Über weite Teile der Ökonomie kann die Selbstverwaltung nicht endgültig verfügen. So bezahlt das Regime in Damaskus beispielsweise immer noch die Gehälter Zehntausender Angestellter des öffentlichen Sektors, einschließlich Öl und Bildung. Nordostsyrien ist auch weitgehend von syrischen Banken abhängig, die den Geldmarkt versorgen. Zwar gibt es seit kurzem eine eigene Zentralbank der Selbstverwaltung, doch hat sie kaum Einfluss. Zudem wird weiterhin das syrische Pfund verwendet, was bedeutet, dass sich die Geldpolitik der Regierung auch auf die AANES auswirkt.

Die politische Ökonomie Nordostsyriens kann somit nicht isoliert betrachtet werden. Die Folgen des Kriegs in Syrien, sowie des Krieges gegen den «Islamischen Staat» und der stetigen Angriffe der Türkei sind im Nordosten omnipräsent. Zu den unmittelbaren Kriegsfolgen wie die Zerstörung der Produktivkräfte und Produktionsmittel kommen die ökonomischen Folgen der türkischen Besatzung, die die Transformationsbemühungen zurückwerfen. Vor dem türkischen Einmarsch in Sere Kaniye und Tel Abyad im Oktober 2019 wurden dort zahlreiche Genossenschaften gegründet: Allein um Sere Kaniye wurden mehr als 12.000 Hektar von Genossenschaften bewirtschaftet, die durch die Besatzung zerstört wurden. Ebenso führt die Türkei einen «Wasserkrieg» gegen AANES, in dem sie das Wasser des Euphrats zurückhält. In der «Kornkammer» Syriens trocknen die Weizenfelder aus. Ein Embargo verunmöglicht zudem internationalen Handel. Das bedeutet, dass die Menschen in Nordostsyrien gezwungen sind, sich selbst zu versorgen und keine Waren exportieren zu können. «Der Krieg und die Belagerung sind die größten Probleme für Nordostsyrien», sagt dahingehend Ismail Karker und ergänzt: «Sie sind wie schwarze Wolken, die über uns hängen. Die wirtschaftliche Lage für ganz Nord- und Ostsyrien ist schlecht.»

Die Selbstverwaltung steht vor der Herkulesaufgabe, die multiplen Probleme vor dem Hintergrund erneuter türkischer Kriegsdrohungen zu lösen. Seit Juli herrscht in Nordostsyrien ein Ausnahmezustand. «Alle Gemeinden, Räte und Institutionen der Selbstverwaltung sind aufgefordert, Notfallpläne zu erstellen, um den aktuellen Herausforderungen und Bedrohungen zu begegnen», heißt es in der Ankündigung der Selbstverwaltung. Haushaltsmittel werden umgewidmet und fließen in das Militär. Der Anspruch radikaler Demokratisierung und Dezentralisierung der Gesellschaft bleibt vor dem Hintergrund einer (andauernden) Kriegsökonomie also weiterhin eine Herausforderung.