Entführungen, Raubüberfälle, Gewalt gegen Frauen

Nichtregierungsorganisationen dokumentieren zahlreiche Menschenrechtsverletzungen der Türkei in den Kurdengebieten Nordsyriens. (Zusammen mit Elisabeth Olfermann)
Erschienen in: neues deutschland vom 13.06.2022

In den letz­ten Tagen kam es in Nord- und Ost­sy­ri­en zu ver­stärk­ten Kampf­hand­lun­gen. Die tür­ki­sche Armee führt an der Gren­ze zu ihrem Nach­bar­land seit Jah­ren Krieg. Für den tür­ki­schen Prä­si­dent Recep Tayy­ip Erdoğan regie­ren in der Auto­no­men Selbst­ver­wal­tung in Nord- und Ost­sy­ri­en »Ter­ro­ris­ten« unter Füh­rung der Arbei­ter­par­tei Kur­di­stans (PKK).

Ob die Angrif­fe im Zusam­men­hang ste­hen mit einer ange­kün­dig­ten tür­ki­schen Offen­si­ve, ist noch unklar. Erdoğan hat­te jedoch ver­kün­det, eine »neue Pha­se« im Kampf gegen die Selbst­ver­wal­tung ein­zu­lei­ten mit dem Ziel, eine 30 Kilo­me­ter in syri­sches Gebiet rei­chen­de »Sicher­heits­zo­ne« zu schaf­fen. Es wäre der vier­te Ein­marsch der Tür­kei in Syri­en. Im August 2016 kam es zur Ope­ra­ti­on in Jarablus. 2018 wur­de Afrin von tür­ki­schen Sol­da­ten und ver­bün­de­ten syri­schen Dschi­ha­dis­ten erobert. Zuletzt wur­de im Okto­ber 2019 ein Strei­fen öst­lich des Euphrats besetzt. In die­sen von der Tür­kei kon­trol­lier­ten Gebie­ten zeigt sich bereits, was Erdoğan unter einer »Sicher­heits­zo­ne« versteht.

Vor der Beset­zung waren die Gebie­te mehr­heit­lich kur­disch geprägt. Heu­te bil­den Kurd*innen nur noch eine Min­der­heit. Zu die­sem Befund kom­men über­ein­stim­mend drei aktu­el­le Stu­di­en der syri­schen NGO »Rights Defen­se Initia­ti­ve Orga­niz­a­ti­on« aus Qamisch­li, der Auto­no­men Selbst­ver­wal­tung in Nord- und Ost­sy­ri­en sowie des Roja­va Infor­ma­ti­on Cen­ter (RIC), einer unab­hän­gi­gen Medi­en­or­ga­ni­sa­ti­on mit Sitz in Nord- und Ost­sy­ri­en. Alle Berich­te lie­gen dem »nd« vor. »Seit der Beset­zung von Afrin im März 2018 wur­de mehr als die Hälf­te der kur­di­schen Bevöl­ke­rung gezwun­gen, ihre Häu­ser zu ver­las­sen und Tau­sen­de Bin­nen­flücht­lin­ge – meist Ara­be­rin­nen – aus ande­ren Gebie­ten Syri­ens wur­den dort ange­sie­delt«, so das RIC in sei­nem neu­en vier­tel­jähr­li­chen »Occup­a­ti­on Report«, der in weni­gen Tagen ver­öf­fent­licht wird.

Hun­dert­tau­sen­de Kurd*innen und ande­re eth­ni­sche und reli­giö­se Min­der­hei­ten muss­ten die Regi­on ver­las­sen. Moham­med Sulei­man, ein Bewoh­ner aus Afrin, berich­tet im Gespräch mit dem RIC: »Wir wur­den 2018 ver­trie­ben und leben seit­dem in einem der fünf Flücht­lings­la­ger im Süden Syri­en für Men­schen aus Afrin. Wir alle wol­len zurück. Wir haben ein Recht, in unse­re Häu­ser zurück­zu­ge­hen, aber Erdoğan plant dort einen demo­gra­fi­schen Wan­del.« In den besetz­ten Gebie­ten gel­ten nun tür­ki­sche Lehr­plä­ne und die tür­ki­sche Lira. Auf öffent­li­chen Gebäu­den pran­gen tür­ki­sche Auf­schrif­ten und die tür­ki­sche Fah­ne. In jesi­di­schen und ale­vi­ti­schen Dör­fern wer­den sun­ni­ti­sche Moscheen gebaut und mus­li­mi­sche Fes­te gefei­ert. Gan­ze Dör­fer wur­den für neue Sied­lun­gen zerstört.

Das RIC berich­tet, dass die tür­ki­sche »White Hands Asso­si­ca­ti­on« die Bau­pro­jek­te mit Hil­fe von Geld­ge­bern aus Katar und Kuwait finan­ziert – Staa­ten mit beson­de­rer Ver­bun­den­heit zur sala­fis­ti­schen Mus­lim­bru­der­schaft. Erdoğans Ziel ist es, in den Gebie­ten rund eine Mil­li­on Men­schen anzu­sie­deln. Vie­le von ihnen haben im IS oder ande­ren dschi­ha­dis­ti­schen Grup­pen gekämpft und sym­pa­thi­sie­ren mit der Tür­kei. Die­se dort dann leben­den ara­bi­schen Syrer*innen wären ange­wie­sen auf tür­ki­sche Unter­stüt­zung – und poli­tisch und öko­no­misch abhän­gig. De fac­to hät­te die Tür­kei damit einen Teil Syri­ens unter Kon­trol­le gebracht.

In den Gebie­ten häu­fen sich Men­schen­rechts­ver­let­zun­gen, wovon die genann­ten Berich­te nahe­zu gleich­lau­tend spre­chen. Seit Beginn der Beset­zung wur­den bei­spiels­wei­se knapp 30 archäo­lo­gi­sche Stät­ten von der Tür­kei zer­stört. Eben­so kam es zu einem Anstieg an schwe­ren Ver­bre­chen: Rund 600 Men­schen star­ben durch Mili­tär- oder Poli­zei­sät­ze; es kam zu meh­re­ren Tau­send Ent­füh­run­gen. Eben­so zahl­reich sind Raub­über­fäl­le, Dro­gen­pro­duk­ti­on und -han­del sowie Gewalt gegen Frau­en. Ins­be­son­de­re in der von der Land­wirt­schaft gepräg­ten Regi­on Afrin wur­den zudem wider­recht­lich Zehn­tau­sen­de Oli­ven­bäu­me gefällt, für vie­le Men­schen die ein­zi­ge Lebensgrundlage.

Die bereits errich­te­te »Sicher­heits­zo­ne« in den besetz­ten Gebie­ten bedeu­tet ins­be­son­de­re für die dort noch leben­den Kurd*innen und eth­ni­schen Min­der­hei­ten kei­ne Sicher­heit, son­dern bringt einen All­tag mit sich, der von Unter­drü­ckung, Ver­trei­bung und Gesetz­lo­sig­keit geprägt ist. Eben­so ste­hen (unge­straf­te) Gei­sel­nah­men, Fol­ter, Ver­ge­wal­ti­gun­gen, Raub, Ent­eig­nun­gen und kul­tu­rel­le Zer­stö­run­gen auf der Tages­ord­nung. Der Tür­kei geht es nicht um Sicher­heit für die Bevöl­ke­rung, son­dern um die Siche­rung der eige­nen Inter­es­sen. Soll­ten wei­te­re Beset­zun­gen fol­gen, ist dies auch für die­se Gebie­te zu erwar­ten. Der Wes­ten schweigt bis­her dazu.