Konkrete Kriegspläne

Der türkische Staatschef Recep Tayyip Erdoğan plant eine neue Offensive gegen die YPG in Nordsyrien.
Erschienen in: neues deutschland vom 02.06.2022

»Wie kann man einen Krieg erklä­ren, wenn bereits seit Jah­ren Krieg herrscht?« Die­sen oder ähn­li­che Sät­ze hört man gegen­wär­tig in Qamisch­li (kur­disch: Qamiş­lo), der mit rund 200 000 Einwohner*innen größ­ten über­wie­gend kur­disch gepräg­ten Stadt in Syri­en. Auch wenn man den Trotz, der dar­aus spricht, spürt, herrscht doch die Sor­ge vor einem erneu­ten Aus­bruch des Kriegs in Nord- und Ostsyrien.

Grund­la­ge hier­für ist die Ankün­di­gung des tür­ki­schen Staats­chefs Recep Tayy­ip Erdoğan von ver­gan­ge­ner Woche, mili­tä­risch gegen die auto­no­me Selbst­ver­wal­tung in Nord- und Ost­sy­ri­en vor­zu­ge­hen. Erdoğan kün­dig­te an, einen 30 Kilo­me­ter brei­ten »Sicher­heits­strei­fen« ent­lang der Gren­ze beset­zen zu wol­len, um »ter­ro­ris­ti­sche Bedro­hun­gen« aus der Regi­on zu bekämp­fen und um dort eine Mil­li­on ara­bi­sche Flücht­lin­ge aus ande­ren Tei­len Syri­en anzu­sie­deln, die in die Tür­kei geflo­hen waren. Der Natio­na­le Sicher­heits­rat der Tür­kei hat­te bereits letz­ten Don­ners­tag den Ein­marsch gebil­ligt. Die­ser wer­de ohne Vor­ankün­di­gung star­ten, so Erdoğan. Kämp­fe wür­de es wohl ins­be­son­de­re nörd­lich von Alep­po und um Koba­ne geben, doch auch die bis­her ver­schon­te Stadt Derik könn­te nun ein Ziel wer­den, so berich­ten loka­le Quel­len. Am Mitt­woch erklär­te Erdoğan, dass er zunächst die Städ­te Tell Rifat und Man­bidsch (kur­disch: Min­bic) »von Ter­ro­ris­ten räu­men« wolle. Teller und Rand – der Podcast zu internationaler Politik

Der Nor­den und Osten Syri­ens, das Gebiet, auf das die geplan­te Mili­tär­ope­ra­ti­on abzielt, wird maß­geb­lich von der »Par­tei der Demo­kra­ti­schen Uni­on« (PYD) kon­trol­liert und von deren bewaff­ne­ten Volks­schutz­ein­hei­ten (YPG/YPJ) ver­tei­digt. Die Tür­kei betrach­tet die Par­tei und die Streit­kräf­te jedoch als Able­ger der »Arbei­ter­par­tei Kur­di­stans« (PKK), die als »ter­ro­ris­ti­sche Orga­ni­sa­ti­on« ange­se­hen wird. Das Gebiet wird durch die auto­no­me Selbst­ver­wal­tung in Nord- und Ost­sy­ri­en demo­kra­tisch selbst­ver­wal­tet. Mit Kur­disch, Ara­bisch und Syro-Ara­mä­isch gibt es offi­zi­ell drei Amts­spra­chen. Posi­tio­nen in der Ver­wal­tung sind immer pari­tä­tisch mit einem Mann und einer Frau besetzt. Seit nun­mehr zehn Jah­ren besteht das basis­de­mo­kra­ti­sche Pro­jekt und muss sich seit­dem gegen zahl­rei­che Fein­de, vor allem die Tür­kei, den soge­nann­ten Isla­mi­schen Staat (IS) oder das Assad-Regime ver­tei­di­gen. Abdul­ka­rim Omar, der Außen­be­auf­trag­te der Selbst­ver­wal­tung, erklär­te dazu in Qamisch­li: »Die Dro­hung der Tür­kei ist ein wei­te­rer Ver­such, die Regi­on zu desta­bi­li­sie­ren. Dies trägt zur Wie­der­erstar­kung des IS und ande­rer ter­ro­ris­ti­scher Grup­pen bei.« Die Selbst­ver­wal­tung hat dar­über hin­aus in einem offe­nen Brief an die inter­na­tio­na­le Gemein­schaft einen Plan gegen die Inva­si­ons­plä­ne der Tür­kei vor­ge­schla­gen, der unter ande­rem den Ein­satz von Frie­dens­trup­pen und die Ver­hän­gung eines Flug­embar­gos über Nord- und Ost­sy­ri­en zum Schutz der Zivil­be­völ­ke­rung vor­sieht. Kha­led Dav­risch, der Ver­tre­ter der Selbst­ver­wal­tung in Ber­lin, ergänz­te, dass »ein Knie­fall vor Erdoğan die Bemü­hun­gen um eine fried­li­che Lösung in Syri­en tor­pe­die­ren« würde.

Aus Rei­hen der Volks­schutz­ein­hei­ten hieß es, dass sie sich im Fal­le eines tür­ki­schen Angriffs vom Kampf gegen den wei­ter­hin akti­ven IS zurück­zie­hen und ihre »mili­tä­ri­schen Maß­nah­men« gegen die tür­ki­sche Inva­si­on rich­ten wür­den. Auch bis­he­ri­ge tür­ki­sche Mili­tär­ein­sät­ze in Syri­en rich­te­ten sich gegen die PYD und die YPG/YPJ. Die Tür­kei ist in der Ver­gan­gen­heit immer wie­der gegen mehr­heit­lich von Kurd*innen bewohn­te Gebie­te vor­ge­gan­gen. Im Ver­lauf von drei völ­ker­rechts­wid­ri­gen Angriffs­krie­gen in den Jah­ren 2016, 2018 und 2019 haben Streit­kräf­te des Nato-Mit­glieds Gebie­te an der Gren­ze unter ihre Kon­trol­le gebracht. Men­schen­rechts­grup­pen haben die­se Ope­ra­tio­nen hef­tig kri­ti­siert: Hun­dert­tau­sen­de Zivilist*innen wur­den ver­trie­ben, es kam zu Mor­den und Ver­ge­wal­ti­gun­gen. Anstel­le der ange­stamm­ten Bevöl­ke­rung wur­den – gesteu­ert von der Tür­kei – isla­mis­ti­sche Mili­zen und ihre Ange­hö­ri­gen ange­sie­delt. Bereits 2020 for­der­ten die Ver­ein­ten Natio­nen die Tür­kei auf, Kriegs­ver­bre­chen in den von ihr kon­trol­lier­ten Gebie­ten zu untersuchen.

Nun kam es in den letz­ten Wochen erneut zu wei­te­ren Ver­schär­fun­gen. Bei min­des­tens 40 Droh­nen­an­grif­fen auf Roja­va wur­den 16 Men­schen getö­tet und Dut­zen­de ver­letzt. Doch nicht nur in Nord- und Ost­sy­ri­en, auch in ande­ren kur­di­schen Gebie­ten führt die Tür­kei Krieg – ohne, dass dies vom Wes­ten kri­ti­siert wird. Seit Mit­te April kämp­fen tür­ki­sche Sol­da­ten in der Regi­on Kur­di­stan im Nord­irak, da sie dort PKK-Kämpfer*innen ver­mu­ten. Zahl­rei­che Dör­fer wer­den von Kampf­jets und Hub­schrau­bern bom­bar­diert und es kommt zu hef­ti­gen Gefech­ten mit Artil­le­rie­ge­schüt­zen. Eben­so gibt es Berich­te über den Ein­satz von Gift­gas. Auch die­se Inva­si­on wird vom Wis­sen­schaft­li­chen Dienst des Bun­des­tags als völ­ker­rechts­wid­rig ein­ge­schätzt. Von Sei­ten des Minis­ter­prä­si­den­ten der Regi­on Kur­di­stan, Mas­rour Bar­za­ni, ist dabei jedoch kei­ne Kri­tik zu erwar­ten – er hat sich immer wei­ter Erdoğan ange­nä­hert und steht der kur­di­schen Selbst­ver­wal­tung in Syri­en kri­tisch gegenüber.

Die Kri­tik an den völ­ker­rechts­wid­ri­gen Krie­gen der Tür­kei bleibt somit bis­her fast voll­stän­dig aus. Der­zeit blo­ckiert die Tür­kei zudem noch die Auf­nah­me Finn­lands und Schwe­dens in die Nato, weil sie bei­den Län­dern vor­wirft, die PYD und die YPG/YPJ zu unter­stüt­zen: »Wer Waf­fen und Aus­rüs­tung, die sie der Tür­kei trotz Bezah­lung vor­ent­hal­ten, gra­tis an die Ter­ror­or­ga­ni­sa­ti­on über­gibt, ver­dient den Titel eines Ter­ror­staa­tes, nicht eines Rechts­staa­tes«, so Erdoğan am Mitt­woch, ohne Bewei­se für die­se Behaup­tun­gen vor­zu­le­gen. Am gest­ri­gen Don­ners­tag warn­te nun US-Außen­mi­nis­ter Ant­o­ny Blin­ken die Tür­kei vor einer Inva­si­on. Die­se wür­de »die regio­na­le Sta­bi­li­tät unter­gra­ben.« Für Erdoğan scheint ein neu­es außen­po­li­ti­sches Aben­teu­er jedoch fast unaus­weich­lich. Kom­men­des Jahr fin­den in der Tür­kei Prä­si­dent­schafts­wah­len statt, und innen­po­li­tisch ist die Lage ver­hee­rend: Die Tür­kei lei­det unter einer mas­si­ven Wirt­schafts- und Finanz­kri­se; dafür soll nun offen­bar die kur­di­sche Selbst­ver­wal­tung den Preis bezahlen.